„DIE REISE DER VERLORENEN“ - Daniel Kehlmanns historisch fundiertes Theaterstück über das Schicksal jüdischer Flüchtlinge in der NS-Zeit auf der Bühne des Gymnasiums Veitshöchheim
Nach zwei Jahren Coronapause stand zum Schuljahresende hin die Theatergruppe des Gymnasiums Veitshöchheim wieder auf der Bühne. Bisher konnten die Schülerinnen und Schüler immer mit Komödien überzeugen, dieses Jahr zeigten sie zum ersten Mal ein ernstes Stück. „Die Reise der Verlorenen“ ,das Theaterstück von Daniel Kehlmann, erzählt in drei Akten vom Schicksal knapp 1000 deutscher Juden, die Nazideutschland 1939 an Bord der St. Louis verlassen und so der Entrechtung und Verfolgung entkommen wollen. Das Ziel ist der Hafen von Havanna. Es ist ihre einzige Hoffnung.
Das Stück basiert auf einer tatsächlichen historischen Begebenheit, die unter dem Namen „Die Irrfahrt der St. Louis“ bekannt wurde. An Bord befinden sich so unterschiedliche Menschen wie Fritz Spanier (Patrick Melcher), ein bekannter Arzt, und seine Frau Babette (Antonia Frank), die trotz Verfolgung noch Wert auf ihren sozialen Status legen, Max Loewe (Amelie Kutscher), ein jüdischer Anwalt, der seit seiner Zeit im Konzentrationslager von suizidalen Gedanken geplagt wird, Charlotte Bergmann (Sarah Schürr) und ihr Neffe Otto (Janek Rau), aber auch Jugendliche (Annika Rau),zwei Kinder(Malou Schramm, Sophie Saul),die auf ein Wiedersehen mit ihrem Vater (Albert Oestemer), der bereits auf Kuba ist, hinfiebern, und nicht zuletzt der Schiffskellner Leo Jockl (Constantin Saul), der in Wahrheit Halbjude ist und es niemandem sagen kann.
Diese Menschen hat es wirklich gegeben. „Wir sind keine erfundenen Figuren und deshalb müssen wir es für Sie auch nicht spannend machen. Ich werde meine Frau und meine Kinder nie wieder sehen“, so wendet sich Aaron Pozner (Aleks Gmernicki), ein Hebräischlehrer, der vom Konzentrationslager gezeichnet ist, an das Publikum.
Die jüdischen Passagiere, schwankend zwischen Hoffnung und Sorge, bekommen immer wieder zu spüren,“ dass die Welt nicht auf ihrer Seite ist“. Selbst auf dem Schiff, von dem sie sich Rettung erhofften, werden sie von Steward und Ortsgruppenleiter Schiendick (Alicia Oertel) und seinen Kumpanen (Jakob Riegel, Marian Gronert) schikaniert.
Als sie schließlich in Kuba ankommen, dürfen sie nicht anlegen. Korrupte kubanische Minister (Mona Hietl/ Annika Muth) und deutsche Agenten der Schifffahrtsgesellschaft HAPAG (Toni Vorndran, Lena Buettner) und der deutschen Abwehr ( Leonie Kimmel) verhandeln in zähem Ringen über das Schicksal hunderter Vertriebener. Der kubanische Präsident Bru (Jakob Riegel) - rechts - will weiterhin Wahlen gewinnen und nicht noch mehr Flüchtlinge im Land haben und die amerikanische Regierung weigert sich, selbst die Flüchtlinge aufzunehmen.
Der mächtige kubanische General Batista (Janek Rau) - rechts - hat seine eigenen Pläne und die Vertreter jüdischer Organisationen und des internationalen Flüchtlingskomittes (Leonie Kimmel/ Marian Gronert) und selbst der erfolgsverwöhnte Anwalt Berenson (Pauline Frank) - links - können so gegen die Rücksichtslosigkeit nur wenig ausrichten. Steward Schiendick hat zudem einen Geheimauftrag, weshalb er so schnell wie möglich nach Deutschland zurück will. Letztendlich muss das Schiff den Hafen von Havanna wieder verlassen und nach Deutschland zurückkehren.
Der deutsche Kapitän Schröder (Anastasiya Sidelnyk), ein aufrechter Mann, sieht sich in einem fatalen Gewissenskonflikt und ringt mit sich. Soll er seinen Auftrag ausführen und das Schiff nach Deutschland zurückbringen oder es vor der englischen Küste auf Grund laufen lassen, damit die Flüchtlinge von der Küstenwache gerettet werden müssen? Im allerletzten Moment erreicht ihn ein Telegramm der belgischen Regierung. Belgien, England, Frankreich und Holland erklären sich bereit einige Flüchtlinge aufzunehmen.
Doch damit sind diese noch nicht gerettet, denn in Europa beginnt gerade der Zweite Weltkrieg und viele Länder geraten unter Naziherrschaft. Am Ende des Stücks kommen die Passagiere einzeln auf die Bühne und erzählen, wie ihre Geschichte weiterging. Manche haben überlebt, es nach Kuba geschafft oder konnten sich während dem Krieg verstecken. Andere hatten weniger Glück, sie starben im Konzentrationslager. Die direkte Publikumsansprache verleiht diesen Aussagen eine immense Intensität.
Zum Schluss kommt Ortsgruppenleiter Schiendick (Alicia Oertel), der im Krieg Karriere gemacht hat, auf die Bühne und versucht posthum dem Publikum im Rückblick klarzumachen, dass die Guten wie die Schlechten gleich sind, sobald nur genug Zeit vergangen ist. Während er spricht, schwillt fast unmerklich ein immer lauter werdendes Summen an. Es sind die Stimmen der Passagiere, die gestorben sind. Schiendick wird schließlich von den Menschen übertönt, die wissen,“ dass es nie egal ist, auf welcher Seite jemand steht“.
Als Stille einkehrt und das Licht ausgeht, applaudieren die spürbar bewegten Zuschauer dem mehr als 20 Personen zählenden Ensemble. „Wir können uns glücklich schätzen, dass wir diese Zeit nicht erlebt haben. Aber sie darf nie in Vergessenheit geraten. Mit unserem Stück wollen wir aber nicht nur an die Vergangenheit erinnern, sondern auch auf die Aktualität des Themas Flucht und ihrer vielfältigen Ursachen hinweisen,“ so Irmgard Ellinger, Regisseurin und Kursleiterin.
„Noch immer geben Menschen ihr bisheriges Leben auf und verlassen ihre Heimat, um vor Krieg und Verfolgung zu fliehen. Ihnen bleibt nichts als die Hoffnung, irgendwo aufgenommen zu werden und Menschlichkeit zu erfahren. Als wir die „Reise der Verlorenen“als Theaterprojekt ausgesucht haben, dachten wir auch an die Kapitänin Carola Rackete, die 2019 Flüchtlinge in Seenot vor der italienischen Küste gerettet hat. Damals hatten wir keine Ahnung, dass das Thema Flucht mit dem Ukrainekrieg noch näher rücken würde.“
Alle Spenden, die die Theatergruppe erhalten hat, werden an Organisationen der Flüchtlingshilfe gehen.
Fotos: Markus Gläßel