Inklusion pur – Museologie-Studierende der Uni Würzburg entwickelten phänomenale taktile Modelle für Jüdisches Kulturmuseum Veitshöchheim
Frischen Wind ins Jüdische Kultur-Museum Veitshöchheim brachten zwölf Studierende des Fachbereichs Museologie der Uni Würzburg. Unter der Leitung der Lehrbeauftragten Simone Doll-Gerstendörfer entwickelten sie in dem Bemühen, das Museum für möglichst viele Besucher attraktiv zu gestalten, neben den vom BFW bereits installierten Audio-Files für vier Objekte Taststationen.So machten sie im Bild die Bima im Synagogenraum sowie weiter auch eine Mesusa, ein Misrach (Anzeigebild für die Himmelsrichtung Osten) und die Gedenktafel für jüdische Kriegsteilnehmer am 1. Weltkrieg auch für Blinde und Sehbehinderte erfahrbar. In der Bildmitte macht BFW-Rehabilitand Marco Schneider erste Erfahrungen mit dem Bima-Modell.
Die zentral in der Synagoge stehende Bima (Lesekanzel), von der aus die Tora während des Gottesdienstes verlesen wird bildet zusammen mit dem Toraschrein das liturgisch-funktionale Zentrum. Sie wurde in der Nazizeit zerstört und mit im Boden gefundenen Bruchstücken wieder aufgebaut.
Um ein Raumgefühl von ihrem achteckigen Grundriss, ihrer nach oben offenen Form und ihrem Standort im Innenraum der Synagoge, inmitten der Bänke ringsum zu vermitteln, gestalteten die drei Studierenden Lea Sophie Formhals, Nadine Oppermann, Saskia Fischer dieses Modell, auf dem sich ebenfalls leicht fühlbar an der Ostwand der mit Samt ausgekleidete Thoraschrein befindet.
Zum anderen griff die Gruppe in einem zweiten Tast-Modell die heute nicht mehr erfahrbare Befundsituation der Ausgrabungen im Jahr 1986 auf, so rechts das Fundament der Bima, und in der linken Hälfte diverse Trümmerstücke.
Schließlich präsentiert sie auf einer Pappfläche Gegenstände wie Kippa (kleine Kappe), Gebetbuch und Tora Zeigestab, mit Brailleschrift versehen.
Wie alle anderen Modelle auch, sind die Darstellungen mit zahlreichen QR-Codes versehen, mit dem man auf dem Smartphone einen beschreibenden Audio-Text abspielen kann. Diese Gruppe fertigte zudem auch noch einen Audio-Guide über einen jüdischen Gottesdienst, verfasst von der Jüdischen Kultusgemeinde Shalom Europa in Würzburg, ebenfalls per QR-Code an den Sitzbänken abrufbar.
Das Thema Inklusion spielt in der Gemeinde Veitshöchheim eine immer größere Rolle. So waren denn auch die Behindertenbeauftragte des Gemeinderates Christina Feiler (im Bild) und der Mobilitätstrainier Helmut Platz vom Berufsförderungswerk für erwachsene Blinde und Sehbehinderte (BFW) begeistert über das, was die vier Seminargruppen vorstellten. Platz hat im Museum bereits Beacons installiert, das sind in der Decke installierte kleine Informationsträger, die über eine vom BFW entwickelte Handy-App Audioinhalte senden.
Ebenfalls in der Synagoge fällt in der rechten Ecke der östlichen Wand neben dem Thoraschrein eine Gedenktafel ins Auge, auf der die Namen von 16 jüdischen Kriegsteilnehmern aus Veitshöchheim im Ersten Weltkrieg 1914 – 1918 verzeichnet sind, die einzig bekannte Gedenktafel in dieser Art, die nicht nur Gefallene, sondern alle Teilnehmer aufführt. Die Tafel war ebenfalls durch die Nazis zerstört, 1986 bei Bauarbeiten gefunden und nach Fotos von 1926 wieder erstellt worden.
Diese drei Studierenden (Lukas Jörger, Sophie Winterwerb und Elena Büchel) bildeten für ihr Modell aus farbiger Pappe mit einer Leichtschaumplatte 3 mmnur die linke obere Ecke ab, um die Zerstörung in der NS-Zeit zu ertasten. Iin Acrylfarbe bedeutet eines der hebräischen Schriftzeichen „in ewiger Erinnerung“. Inhalte werden per QR-Code in einer Audio-App und analog in einem Ringbuch mit erweiterten Infos vermittelt. Thematisiert werden hier die drei Brüder, Karl, Emil und Siegmund Sichel, die unterschiedliche Schicksale haben: Einer starb im Krieg, einer wurde deportiert und ermordet und der dritte wanderte in USA aus.
Das dritte hier von der Lehrbeauftragen gezeigte Tastenmodell befasst sich mit dem Thema "Misrach", das ist der hebräische Name für Osten. Es bezeichnet die Himmelsrichtung, in die sich der fromme Jude zum Gebet verneigt, Im heutigen Judentum haben viele Häuser einen kleinen Teppich, eine Zeichnung, Radierung o. ä. mit der Aufschrift hängen, anhand dessen man sich bei seinen Gebeten zu orientieren vermag.
Die Studierenden Leila Hassan Pour Almani, Marika Berner und Esther Kaack schufen ein Aquarell, auf drei übereinander klappenden DIN A 3 Papieren gemalt, die groben Linien zum Erfühlen mit Window Color nachgezogen, Symbole wie Löwen, Säulen der Tempel dreidimensional in Memo aufgeklebt auf die oberste Folie zum besseren Ertasten. Per Audioguide wird der Zusammenhang zum Thema Genisa erläutert.
Beim vierten Tastmodell, der Mesusa, handelt es sich um einen wichtigen Alltagsgegenstand. An der oberen Hälfte des Pfostens der Haus- oder Wohnungstür vieler Juden hängt in einem kleinen Hohlraum ein Glaubenssymbol in Form einer Schrift-Kapsel mit einer kleinen Rolle Pergamentpapier gefüllt. Die Kapsel heißt Mesusa und die Schriftrolle Megilla. Sie verweist auf das Gebet „Höre Israel“ und dass das Haus unter Gottes Schutz steht. Die Mesusa ist mit einem Ritual verknüpft, beim Betreten oder Verlassen des Hauses wird sie mit dem Finger berührt und dieser dann geküsst.
Zu sehen ist eine Mesusa am Eingang der Synagoge und eine Vertiefung am Eingang der Vorsängerwohnung sowie ausgestellt auf dem Dachboden.
Von der Mesusot (Mehrzahl) gibt es verschiedene Versionen. Die Studierenden Mathias Hofmeister, Chiara Maurer und Charlotte Magin vermitteln die Vielschichtigkeit der Mesusa in Form einer taktilen Mindmap mit dem Thema in der Mitte und verschiedenen angeknüpften Flächen mit Darstellung von Kapsel, Pergament, Ritual, was eine Art von Struktur ergibt und mit dem Finger durchfahren werden kann.
Als Material verwendet wurde Pappe, ein Abguss des Pfostens aus Ton von der Vorsängerwohnung gefertigt. Für die Vielseitigkeit der Hüllen rechts oben wurden drei verschiedene Materialien gewählt: ein Stück in Alufolie eingewickelt, ein Holz und ein Stücke Pappe, die Schrift auf den einzelnen Ästen in Window Color, rechts unten auch die Braille-Schrift. Alle Teile sind mit QR-Codes versehen, die zu einem Text verlinken, alle Felder bis auf das Ritualfeld ertastbar.
Die Studierenden hatten zuvor im Foyer des JKM per Beamer auf der Leinwand die Ergebnisse und Konzepte präsentiert, die sie in viermonatiger Seminararbeit entwickelt hatten. Die gemeindliche Kulturreferentin Dr. Martina Edelmann stufte die entstandenen Prototypen als phänomenal ein.
Edelmann betreut die seit einem Jahr inhaltlich komplett erneuerte Dauerausstellung des Jüdischen Kulturmuseums Veitshöchheim (JKM) unter dem Titel „Schauplatz Dorf“ im Rahmen einer halben Kulturamtsstelle der Gemeinde. Deshalb freut sie sich sehr auf Kooperationen, durch die sich Inhalte des Museums aus einer anderen Sichtweise interpretieren und vermitteln lassen.
Durch eine zufällige Begegnung auf einer Zugfahrt von ihr mit Simone Doll-Gerstendörfer kam nun eine Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Museologie der Uni Würzburg unter dem Institutsleiter Professor Dr. Guido Fackler zustande. In einem Seminar von Simone Doll-Gerstenhofer, die sich auf die Vermittlung von Museumsinhalten für Personen mit Einschränkungen spezialisiert hat, entwickelten zwölf Studierende Ideen, wie die Inhalte von vier Objekten aus dem Jüdischen Kulturmuseum für Blinde und Sehbehinderte erfahrbar gemacht werden können.
Zugänge für Behinderte zu schaffen ist laut Edelmann schon eine besondere Aufgabe. Aber noch einmal schwieriger werde es, wenn die ausgewählten Objekte wie Mesusa, Misrach, Bima oder Gedenktafel auf den ersten Blick nicht so einfach zu verstehen oder bekannt sind und dann auch noch die hebräische Sprache von Bedeutung ist. Rivka Scherpf leistete diesbezüglich Hilfestellung.
Erfolgreiche Kooperationen ging Edelmann im Vorjahr schon mit einem P-Seminar Kunst des Gymnasiums Veitshöchheim ein, das sich mit Themen der jüdischen Kultur auseinandersetzte und diese in eigenen Kunstwerken verarbeitete. Und ab nächster Woche beginnt im JKM die Aktion „Kunst geht fremd“, an der sich 16 Museen aus Unterfranken beteiligen und wo dann hier ein „Fremdgänger“ aus Bad Kissingen zu sehen.
Lehrstuhlinhaber Professor Dr. Guido Fackler führte aus, dass es für ihn In der Museologie schon immer wichtig ist, etwas zu machen, was mit Museen zu tun hat. Für ihn ist es deshalb sehr wichtig, dass so eine Partnerschaft wie hier zustande kam, wo man sich aufeinander vertrauen und verlassen kann. Fackler: "Ich bin stolz, dass ein solcher Austausch erfolgt und man rausgeht und so jeder etwas davon hat. Auf diesem Weg machen wir gerne weiter.“
Seine Lehrbeauftragte Simone Doll-Gerstendörfer machte all ihren Studierenden das Kompliment, die Herausforderungen in der kurzen Zeit trotz Online-Modus mit Bravour bestanden zu haben. Sie bedankte sich bei Edelmann für die Zusammenarbeit, die außergewöhnlich gewesen sei und super funktioniert habe. Außer den Modellen hatten die Studierenden nach ihren Worten noch eine Fülle von Ideen für die gemeindliche Kulturreferentin parat. Sie laden zum Experimentiermodus ein, sich an etwas ranzuwagen, sich auf Vermittlungsziele zu fokussieren.
Fotos Dieter Gürz