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Günter Wetzel referierte im Gymnasium Veitshöchheim als Zeitzeuge über die tollkühne Flucht vor 44 Jahren mit einem Heißluft-Ballon aus der DDR nach Naila in Bayern, die damals größte Wellen schlug und 2018 verfilmt wurde

Veröffentlicht am von Dieter Gürz

Die befreundeten Familien Wetzel und Strelzyk riskierten am 16. September 1979 ihr Leben, um der DDR-Diktatur zu entkommen. Der geheime Nachtflug im Heißluftballon am 16. September 1979 zählte zu den spektakulärsten Fluchtversuchen seit dem Mauerbau 18 Jahre zuvor. Noch nie war es DDR-Bürgern gelungen, mit einem selbstgebauten Fluggerät aus dem Osten in die Bundesrepublik zu fliehen. Nur selten hatte eine so große Gruppe auf einmal Mauer und Minenfelder überwunden. 44 Jahre später ist die tollkühne Flucht der vier Erwachsenen und ihrer Kinder im Alter von zwei bis 15 Jahren  eine Legende.

Johanna Hecke, Leiterin Forum Soziale Bildung Benediktushöhe und Patrick Freudenberger, Fachschaft Geschichte und Sozialkunde des Gymnasiums Veitshöchheim präsentierten am Montagabend, 18. Dezember in der Schulaula mit Günter Wetzel (Jahrgang 1955) einen Zeitzeugen, der zwei Stunden lang aus erster Hand ausführlich erzählte, unter welchen Bedingungen das Leben in der DDR ablief, welche Gründe die Menschen zur Flucht veranlasste und spannende Details über die Flucht mit dem Heißluftballon.

Im Schnitt zweimal im Monat erzählt Wetzel anderen über die spektakuläre Flucht mit dem Heißluftballon, die zweimal verfilmt wurde, zuletzt von Michael „Bully“ Herbig im Film „Ballon“ von 2018. Der 68jährige war unter anderem auch schon bei Fernsehmoderator Markus Lanz zu Gast (siehe Link auf Video). Auch in Schulen ist er wie jetzt in Veitshöchheim häufig zu Gast. Unterwegs ist er im Osten wie im Westen. Wie er sagt, würden junge Menschen im Osten oft auch nicht mehr über die DDR wissen, als die jungen Leute aus den alten Bundesländern.

Geschichtslehrer Freudenberger freute sich sehr, dass neben vielen Erwachsenen auch  rund 30 Jugendliche in die Schulaula gekommen waren, davon viele aus der Klasse 10b, um Neues  über ein weithin bekanntes  Ereignis zu erfahren und zu erleben, welchen Wert es hat, Informationen aus erster Hand zu bekommen, die man sonst in der Schule nur wiedergegeben erhält.  Für alle war es aus dem Mund von Günter Wetzel eine wahnsinnig spannende Geschichte, ein ganz anderes Gefühl, wenn jemand am Geschehen unmittelbar beteiligt war.

Auch der Mauerfall liegt über 34 Jahre zurück, doch die Thematik der deutschen Einheit, so Freudenberger, sei heute so aktuell wie damals. Wetzels Vortrag bot sowohl Hintergrundwissen, als auch einen Perspektivwechsel mit Blick auf die andauernden politischen Fragen zur innerdeutschen Ost-West-Problematik (siehe hierzu auch die Aussagen der Familie Strelzyk im Artikel der Leipziger Volkszeitung vom 12.9.2019 - siehe nachstehender Link).

„Tollkühne Flucht aus DDR mit selbstgebautem Ballon“ so lauteten am 17. September 2023 die Schlagzeilen in der westdeutschen dpa-Pressemeldung. Hier ein Auszug:

"Die beiden aus Pößneck (Thüringen) stammenden Ehepaare haben mit ihren vier Kindern in Alter von zwei bis 15 Jahren die Grenze nach Bayern mit einem selbstgebauten Heißluftballon überquert. Bei der abenteuerlichen 50minütigen Reise von einem knapp zehn Kilometer von der Grenze entfernten Ort nach Naila (Landkreis Hof), auf der sie eine Höhe von 2500 Meter erreichten, wurden zwei Kinder und einer der Erwachsenen leicht verletzt.

Die Flüchtlinge sind der 37jährige Elektromonteur Peter Strelzyk, seine 31jährige als Industriekaufmann ausgebildete Frau Doris, ihre 15 bzw. elf Jahre alten Kinder Frank und Andreas sowie das Ehepaar Günter und Petra Wetzel mit seinen Kindern, dem fünfjährigen Peter und dem zweijährigen Andreas. Der 24jährige Günter Wetzel ist von Beruf Maurer und Berufskraftfahrer, seine gleichaltrige Frau Sachbearbeiterin für Qualitätskontrolle.

Beim Start am Sonntagmorgen gegen 2.40 Uhr zogen sich Frank und Andreas Strelzyk Schrammen im Gesicht zu. Bei der Landung 28 Minuten später, zwei Kilometer westlich von Naila, verletzte sich Günter Wetzel am Unterschenkel. Die Landung war etwas hart ausgefallen, weil unmittelbar vorher das Gas ausging.“

 DAS LEBEN IN DER DDR

In der DDR gab es laut Wetzel keine Meinungsfreiheit, beherrschte die SED die Presselandschaft, kam ins Gefängnis, wer einen politischen Witz machte, wurde gefoltert, durfte man nichts Negatives machen, wer nicht mitspielte, wurde sofort von der Stasi bespitzelt. Die Kinder waren ab dem ersten Lebensjahr in staatlicher Betreuung, wurde zum Pionier ernannt und ab 14 war man bei der FDJ.

Die Bauern wurden enteignet und mussten in den LPGs arbeiten. Auch die Gewerbebetriebe wurden volkseigene Betriebe.

Dafür gab es die Gleichberechtigung für die Frauen und billige Wohnungen in riesigen Wohnsilos, wie hier in Chemnitz, wo mit 90.000 Leuten mehr als ein Drittel der Bevölkerung untergebracht waren.

Mit dieser Antenne konnte man vom leistungsstarken Sender Ochsenkopf des Bayerischen Rundfunks ab dem 12. Februar 1958 mit 100 kW ausgestrahlte Erste Fernsehprogramm der ARD auch im südlichen Teil der DDR empfangen, was verboten war. So wurden die Kinder ausspioniert, welche Uhr im Fernsehen zu sehen ist.

Wetzel: "Das Leben in der DDR war für uns unbefriedigend, da es eine Reihe von Punkten gab, die uns nicht gefielen, denn wir mussten in vielen Punkten Einschränkungen in Kauf nehmen. Wesentliche Gründe waren, dass es nicht möglich war, öffentlich oder auch in kleinem Kreis seine Meinung zu äußern, da man nicht sicher sein konnte, ob nicht ein oder sogar mehrere Beteiligte Spitzel waren. Außerdem war es nicht oder nur eingeschränkt möglich in ein anderes Land zu reisen, außer in einige Länder des Ostblocks." Dies war aber auch für ihn nicht möglich, da sein Vater schon Anfang der 60er Jahre geflüchtet war. Deshalb war auch die Wahl seines Berufes eingeschränkt, insbesondere wenn man nicht linientreu war. So konnte Wetzel nur Maurer aber nicht Pilot werden.

Man konnte sich das Leben allerdings, so wie Peter Strelzyk, erleichtern, wenn man sich entsprechend engagiert hat und wie er Mitglied der SED wurde. Da beide Anfang 1978 zusammengearbeitet haben, hatten sie auch häufig Gelegenheit miteinander zu reden, wo sich herausstellte, dass beide eigentlich gleicher Meinung waren.  Strelzyk, geboren 1942 in Oberschlesien, war als Kleinkind mit seinen Eltern nach Thüringen geflüchtet. Nach einer Zeit bei der NVA als Luftfahrtmechaniker arbeitete er als Elektromonteur. Als sein Schwager verhaftet und aus politischen Gründen verurteilt wurde, wollten Strelzyk und seine Frau Doris, aus der DDR flüchten. Das Ehepaar Günter und Petra Wetzel, gut ein Jahrzehnt jünger, fühlte sich trotz grundsätzlich gesicherter Lebensbedürfnisse in der DDR durch die dauernde Propaganda, staatliche Reglementierung und das Verbot freier Rede massiv eingeschränkt.

Wie Wetzel erzählte, war denn die Flucht auch häufig das Thema, über das sie sprachen, bis sie den Plan fassten, die DDR zu verlassen. Mitkommen sollten die Familien, insgesamt waren sie also vier Erwachsene und vier Kinder.

Sie sahen aber zunächst keine Möglichkeit, das zu schaffen, denn die Grenze erschien unüberwindbar (im Bild unten ein Selbstschussapparat). Der Schießbefehl auf Flüchtlinge war neben schwer überwindbaren Sperranlagen und einer dichten Staffelung von Grenzposten der dritte und entscheidende Eckpfeiler des DDR-Grenzregimes. Von Beginn an hegte die SED-Führung keinen Zweifel daran, dass nur durch die Androhung des Todes - und in letzter Konsequenz die Tötung - eine ausreichend abschreckende Wirkung zu erzielen war, um die massenhafte Flucht der Bevölkerung dauerhaft zu unterbinden und so den Fortbestand des Regimes zu sichern.

Laut Wetzel kamen in den 28 Jahren zwischen dem 24. August 1961 und dem 5. Februar 1989 auf der Flucht 957 Personen ums Leben. Insgesamt verließen über 3,8 Mio. Menschen die DDR.

 

 BALLONFAHRT IN DIE FREIHEIT

Rein zufällig kam die Schwester von Wetzels Frau Petra zu Besuch, die bereits 1958 die DDR verlassen hatte, und brachte eine Zeitschrift mit, in der über das jährliche Ballonfahrertreffen in Albuquerque berichtet wurde. Neben dem Bericht waren auch einige Bilder von Heißluftballons zu sehen. Wetzel: "Bei diesem Anblick kam mir die Idee, dass dies eine Möglichkeit wäre, so die Grenzanlagen zu überwinden."
Am 8. März 1978 trafen dann die beiden Familien die Entscheidung, dass sie es auf diese Weise versuchen wollen, die DDR zu verlassen.

Der gelernte Maurer Wetzel nähte in mühevoller nächtelanger Kleinarbeit mehrere hundert Quadratmeter Stoffbahnen aneinander – im Schlafzimmer seines Hauses in Pößneck auf einer alten mechanischen gusseisernen Nähmaschine. Drei Versuche sollte er benötigen. Die erste 1800 Kubikmeter große Ballonhülle mit 48 je 28 Meter langen Stoffbahnen aus Futterstoff aus einer volkseigenen Ledertaschenfabrik erwies sich bei einem Füllversuch im April 1978 als zu grobmaschig, weshalb die Familien ihn vernichteten. Den Stoff hatte Wetzel gegen einen Kasten Bier erstanden.

Der zweite Ballon bestand aus Taftstoff, den Peter Strelzyk und Günter Wetzel in einem Kaufhaus in Leipzig gekauft hatten. Sie gaben sich dabei als Mitglieder eines Segelclubs aus. Da die konstruierte Gondel zu klein war, um beide Familien zu tragen, stieg die Familie Wetzel aus dem Plan aus, und die Strelzyks unternahmen in der Nacht vom 3. zum 4. Juli 1979 allein einen Fluchtversuch. Der Ballon geriet in einen Wolkennebel und die Hülle saugte sich voll Wasser. Der Ballon sank und landete in einem Waldstück unmittelbar vor dem Grenzsperrgebiet. Den Strelzyks gelang es, unbemerkt nach Pößneck zurückzukehren. Den Ballon mussten sie jedoch preisgeben.

Erst am 20. Juli 1979 fand ein Jäger im Grenzgebiet des DDR-Kreises Lobenstein den Heißluftballon. Die Stasi war sofort alarmiert und begann zu ermitteln. Sie versuchte aufgrund der an der Landestelle des zurückgelassenen Ballons gefundenen Hinweise, die Konstrukteure zu ermitteln. Die Ballonhülle war aus über 1.000 Quadratmetern Taftstoff gefertigt. Die Beschaffung einer solchen Menge hätte beim Kauf auffallen müssen, so die Hoffnung der Stasi. Wetzel und Strelzyk hatten den Stoff jedoch in Leipzig in einem großen Warenhaus gekauft, wo sie damit nicht weiter in Erinnerung geblieben waren. Auch am Landeplatz zurückgelassene Medikamente für eine Schilddrüsenerkrankung brachten keine Erkenntnisse. Allein 800.000 Rezepte wurden im Bezirk Gera geprüft – ohne eine heiße Spur zu ergeben.

Mitte August ging die Stasi mit einer Fahndung an die Öffentlichkeit: Sie ließ in der Zeitung "Volkswacht" die am Landeplatz zurückgelassenen Gegenstände - ein Barometer, ein Taschenmesser und eine Wasserpumpenzange – abbilden und bat um zweckdienliche Hinweise. Doch auch dies blieb ohne Ergebnis. Es waren Alltagsgegenstände ohne besondere Merkmale.

Nach diesem gescheiterten Fluchtversuch entschlossen sich Strelzyk und Wetzel, einen dritten Ballon zu konstruieren. Wieder entstand in Nachtarbeit eine noch größere Ballonhülle, mit 4200 Kubikmeter der bis dahin größte Ballon Europas, der für Wetzel groß genug war, um acht Personen sicher in den Westen zu tragen.  Für den dritten 28 Meter hohen und 20 Meter breiten Ballon besorgten die Familien Strelzyk und Wenzel das Material in vielen kleinen Posten. Dafür mussten sie zum Teil weite Wege in Kauf nehmen, um an die für den neuen Ballon vorgesehenen schwer erhältlichen Stoffe Regenschirmseide und Zeltnylon zu gelangen. Die vielen Käufe fielen trotz der laufenden Ermittlung der Stasi nicht auf.

GELUNGENE BALLONFLUCHT MIT HINDERNISSEN

In der Nacht zum 16. September 1979 war es dann so weit. Der Segelflug-Wetterbericht im Bayerischen Rundfunk versprach mit konstantem Nordwind ideale Voraussetzungen. Wetzel fuhr, wie er in Veitshöchheim sagte, mit seinem Sohn auf dem Moped, alle anderen mit Strelzyks Auto auf Nebenstrecken Richtung Grenze, wobei Wetzel durch Kolbenprobleme mehrmals Halt machen musste und eine halbe Stunde zu spät zur Waldlichtung nahe der thüringisch-bayerischen Grenze kam.

 

Hier laden Peter Strelzyk und Günter Wetzel aus dem Anhänger des kleinen Wartburg die 26 Meter lange und 100 Kilo schwere Ballonhülle, den Flammenwerfer, Propangasflaschen und die selbstgeschweißte Gondel ab,  breiten in der mondhellen Nacht die Ballonhülle aus, füllen sie mit erhitzter Luft aus dem selbstgebauten Gebläse und werfen den Flammenwerfer an, gespeist mit Propangas. Neben der Ballonhülle haben die beiden Konstrukteure auch an der Gastechnik getüftelt, haben zum Füllen des Ballons ein mobiles Gebläse gebastelt, wie im Bild oben zu sehen bei Strelzyks mißglückter Flucht im Juli von der Stasi dokumentiert.

Die Plattform, auf der sich die Männer mit ihren Frauen Petra und Doris nebst vier Kindern drängen, ist 1,40 mal 1,40 Meter klein. Als einzige Sicherung gegen den Absturz ragen an den vier Ecken 80 Zentimeter hohe Pfosten hoch, mit einer Wäscheleine verbunden.

 

Und sie hatten, wie Wetzel erzählte, einige Probleme zu bewältigen:

 

Einen großen Schreck gab es so schon auf der Startwiese im Wald nahe von Oberlemnitz, heute ein Stadtteil von Bad Lobenstein . Der damals 15-jährige Frank Strelzyk, der beim Kappen einer der vier unter Spannung stehender Seile, an welchen der 28 Meter hohe Ballon vor dem Start fixiert war, bekam einen Erdhering mit voller Wucht gegen den Kopf und blutete stark. Zum Glück war es nur eine Platzwunde.

Weil sich ein Haken nicht löste, hat sich der Ballon quergelegt und die Ballonseide angefangen zu brennen.

Doch per Feuerlöscher gelingt es Wetzel, blitzschnell die Hülle zu löschen, bevor die Flammen den Traum vom Leben in der Freiheit zerstören können. Dann reißt auch noch eine Stoffkappe oben in der Mitte des Ballons. Und doch steigt der Ballon Meter um Meter. Zum Glück blieb der Ballon aufgeblasen. Eine weitere Schrecksekunde war dann, als Scheinwerfer der DDR-Grenzpolizei am Nachthimmel auftauchen. Der Ballon erreicht jedoch etwa 2000 Meter, zu hoch für die Scheinwerfer. Doch nun hatte der Brenner kein Gas mehr. Der Ballon drehte sich, so dass keiner mehr gewusst hatte, wo sie waren. Und schon ging es steil bergab, streifte die Gondel noch die hohen Baumwipfel, um dann im Gebüsch  an einem Feldrand krachend zu landen. Günter Wetzel hat sich bei der etwas ruppigen Landung des riesigen Ballongefährtes einen Muskelfaserriss am Bein zugezogen. Petra Wetzel brach sich beim Landeaufprall einige Zähne ab. Die Kinder blieben zum Glück unverletzt.

Links ist die Gondel nach der Landung mit den aufgeschnittenen Wäscheleinen. Hier liegen auch noch der Feuerlöscher und die Streichhölzer. Es erscheint im Nachhinein unvorstellbar, dass wie Wetzel auf Nachfrage aus dem Publikum erklärte, auf dieser kleinen Fläche von zwei Quadratmeter rund um die vier Gasflaschen und dem Brenner in der Mitte vier Erwachsene und vier Kinder 18 Kilometer bis auf 2000 Meter bei Minus acht Grad 28 Minuten in der Luft mit einer Geschwindigkeit bis zu 50 km/h unterwegs waren, nur durch Wäscheleinen 80 Zentimeter hoch abgesichert. Wie Wetzel sagte, hatten sie großes Glück, einen günstigen Wind zu haben.

Bereits wenige Minuten nach dem Start war die Volkspolizei informiert. Der Nachtwächter des Kreiskulturhauses in Lobenstein hatte ein unbekanntes Flugobjekt mit Flugrichtung Staatsgrenze gemeldet. Scheinwerfer suchten den Himmel ab, erreichten den Ballon aber nicht. Noch ehe die Grenzpolizei eingreifen konnte, hatte der Ballon das Territorium der DDR verlassen. Sieben Kilometer hinter der Grenze landeten die Flüchtlinge mit viel Glück am Rand des oberfränkischen Städtchens Naila – nur 300 Meter von einer Hochspannungsleitung entfernt.

Ihre  Frauen und Kinder hatten sich nach der Landung versteckt und die Männer hatten gesagt, sie gehen voraus und zünden eine Rakete, wenn es geklappt hat. „Sind wir hier im Westen?“ Nur diese eine Frage stellten Günter Wetzel und Peter Strelzyk und als sie auf bayerische Grenzer treffen. Und bei der Antwort „Ja klar, wo denn sonst?“ brechen sie in Jubel aus:.

Nach Zünden der Rakete kamen dann die Polizisten aus Naila mit Scheinwerfern zu den anderen am Landeplatz und wollten das alles gar nicht glauben. Sie hatten erst gedacht, es kommen Terroristen. Sie packten dann die Maschinengewehre vom Rücksitz in den Kofferraum und fuhren die Flüchtlinge dann in den frühen Morgenstunden nach Naila in eine Halle vom Roten Kreuz. Hier wurden sie auch vom Bürgermeister zuvorkommend willkommen im Westen geheißen, der den beiden Familien sogleich fünf Wohnungen zur Miete anbot und ein Metzger brachte eine reichhaltige Brotzeit vorbei.

Die Trennung

Die eineinhalb Jahre von Günter Wetzel und Peter Strelzyk intensiv vorbereitete und dann im dritten Anlauf mit ihren Familien geglückte Flucht entbehrt nicht einer gewissen Tragik, hatten sich doch kurz danach, wie Wetzel in Veitshöchheim erzählte, ihre Wege getrennt.

Wie Wetzel zu diesem Foto in Veitshöchheim ausführte, begann für ihn kurz nach Landung in Naila der ärgerliche Teil, denn er bekam Schmerzen in der rechten Wade und konnte nicht mehr laufen, so dass er eine Woche im Krankenhaus verbrachte, was ihn hinderte, an Interviews teilzunehmen. Den Pfleger, der ihn damals im Krankenhaus in Naila behandelte, hatte er zufällig beim Jahrestag im September im Museum in Naila wieder getroffen, als dieser bei seinem Vortrag aufstand und sagte "Durch dieses Foto bin ich in die Zeitung gekommen."

Während er also im Krankenhaus lag, fuhren die anderen Flüchtlinge zum Landeplatz, wo sie sich an der Gondel für die Presse ablichten ließen. Seinen einwöchigen Aufenthalt im Krankenhaus habe Peter Strelzyk damals  leider dazu genutzt, so bedauert Wetzel, gegenüber der Presse die gesamte Geschichte so darzustellen, dass sie eigentlich nie richtige Freunde waren und die Idee zur Flucht von ihm kam und auch die Konstruktion und der Bau aller Komponenten seine Sache gewesen wäre. Lediglich das Nähen des Ballons habe Strelzyk  ihm überlassen. Das Ganze habe Strelzyk finanziert, der schließlich elf Jahre älter als Wetzel war.

Während Peter Strelzyk 1993 in einem Interview mit dem Stern noch erklärte, die zerbrochene Freundschaft sei eine Erfindung der Boulevardpresse, hat Günter Wetzel eine andere Erinnerung, die er links stehend kurz gefasst in seinem Vortrag und weiter ausführlich auf seiner Homepage darlegte.

In einem Interview am 16.10.2020 auf Lokalkompass Xanten (siehe nachstehender Link) hatte allerdings Wetzel selbst gesagt: ""Wir waren keine Freunde, aber Kollegen, die eine Zweckgemeinschaft bildeten. Wir arbeiteten als freie Elektriker, ohne selbstständig zu sein. Man durfte in der DDR Feierabendarbeit machen. So gesehen haben wir den ganzen Tag Feierabendarbeit gemacht. Wirtschaftlich ging es uns für DDR-Verhältnisse gut. Man konnte die Aktion mit dem Ballon auch nur starten, wenn man Geld hatte. Wir mussten ja viel Stoff kaufen." Wie er in Veitshöchheim sagte, habe Strelzyk an 50.000 Mark in das Fluchtprojekt investiert.

Günter Wetzel zeigte im Gymnasium so auch nicht die Fotos direkt nach der Flucht, wie sie die Zeitschrift "Stern" am 16.09.2019 zum 40. Jahrestag und die "Welt" am 16.9.2022 veröffentlichten (siehe nachstehende  Links auf Zeitungs-Artikel). Auf den Aufnahmen, die das Ehepaar Stelzyk und Petra Wetzel mit Kindern kurz nach der Landung bei Naila zeigten, war der Vortragende nämlich nicht zu sehen. Wetzel ließ auch unerwähnt, dass die Familien auf einem im "Stern" veröffentlichten Foto 1979 noch zusammen bei einem Empfang durch den Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß zu sehen waren.

Während sich die Wetzels eigenen Angaben zufolge im Januar 1980 aus den Medien zurückzogen, "um einen normalen Alltag einkehren zu lassen", hätten die Strelzyks in der Öffentlichkeit die Geschichte etwas verdreht. Dies und zwei weitere Fälle, die er ebenfalls auf der Internetseite näher erläutert, hätten dafür gesorgt, dass der Kontakt dann ab 1983 völlig abbrach. Da laut Wetzel vieles in den Medien falsch dargestellt worden sei, sei er dann zum 30. Jahrestag in die Offensive gegangen und habe das Ganze dann im Internet unter www.ballon.de ausführlich aus seiner Sicht dargestellt (siehe nachstehender Link).

Fragen aus dem Publikum

Im Anschluss an den Vortrag stellte sich der Referent den Fragen der Zuhörerschaft, in deren Mittelpunkt die Stasi stand und was aus den beiden Flüchtlingsfamilien wurde.

So informierte Wetzel, wie dicht die Stasi ihnen auf den Fersen war und nach deren Akten in Gera sie nur noch sechs Tage gebraucht hätte, um sie zu fassen (siehe nachstehender Link auf stasi-unterlagen-archiv.de mit Schlussfolgerungen der Stasi aus dem Grenzdurchbruch).

Für das SED-Regime war diese auch von den Westmedien vielfältig publizierte Ballonflucht eine große Niederlage. Seine zurückgebliebenen Verwandten und Bekannten habe die Stasi aber nichts anhaben können, da er diese über seine geplante Flucht nicht informiert hätte. In der DDR habe es dann einen Haftbefehl gegen ihn gegeben, der 1988 aufgehoben wurde. In den 2000 Seiten umfassenden Unterlagen der DDR-Staatssicherheit konnte Wetzel 1993 feststellen, dass  beide Familien bis zum Fall der Mauer 1989 intensiv beobachtet wurden.

Die Stasi schickte so auch ein bekanntes Ehepaar  Pößneck nach Naila, um die Familie Wetzel wieder in die DDR zurück zu locken unter angeblicher Zusicherung von Straffreiheit und wo sie wieder ihr Haus und eine Arbeitsstelle bekämen. Zudem gab es auch anonyme Drohungen, die Kinder der Familie Strelzyk im Westen zu entführen.

Ein Fake war ebenso auch der Versuch eines entfernten Verwandten, ihn zu einem Treffen in Ungarn zu locken, wo die Stasi ihn verhaften wollte. Telefonisch habe er mit seinen Eltern in Kontakt bleiben können. Außerdem konnten diese als Rentner drei Mal in zehn Jahren in den Westen reisen.

Günter Wetzel waren die Gefahren damals gar nicht so bewusst, als die Familien in der Nacht vom 15. auf den 16. September 1979 mit ihren Kindern in den Korb kletterten. "Da hat man gar nicht viel nachgedacht. Wir waren voller Adrenalin. Man war nur damit beschäftigt, dass alles funktioniert", sagte er auf die Frage aus dem Publikum, ob er Angst hatte. Wie ersagte, werde er auch immer wieder gefragt, warum er seine kleinen Kinder und seine Frau in solch große Lebensgefahr gebracht habe? Es seien damals bei dem Versuch, aus der DDR zu flüchten, so sagte er, viele Menschen verstorben oder verletzt worden, zum Beispiel, wenn sie es schwimmend über die Ostsee versuchten oder auf dem Landweg an der Grenze auf eine Mine traten oder die ebenso heimtückischen Selbstschussanlagen auslösten. Sie seien damals vor der Flucht zuversichtlich gewesen, dass alles gut gehen wird. Dieses Gefühl hätten sie alle verinnerlicht und deshalb alleine schon wegen der Kinder den aus ihrer Sicht damals weitaus sicheren Luftweg gewählt.

Zur Frage nach seinen Erfahrungen im Westen, sagte Wetzel, dass er sich mit seiner Familie in seiner neuen Heimat Hof sehr schnell eingelebt und dann Umstieg ganz schnell verkraftet hat. Er habe mit seiner Frau und den beiden Kindern in der Nähe der Stadt Hof eine neue Heimat gefunden und konnte sich berufsmäßig gut entwickeln, schulte erst zum Kfz-Mechaniker um, wurde bald Meister, dann Ausbilder und schließlich Qualitätsberater für Autofirmen im Raum Hof. So habe er bewusst gar nicht registriert, dass er nach der Flucht nun in einem neuen System lebte. Er habe sich einfach wohl gefühlt und konnte nun endlich das machen, was er gerne wollte und was ihm Spaß machte. Durch das regelmäßige Westfernsehen habe er schon gewusst, wie man sich hier im Westen zu verhalten habe und es sei ihnen ganz einfach gemacht worden, in dieses System einzusteigen. So habe er sofort einen Personalausweis und einen Reisepass erhalten.

Die Frage, ob er etwas vermisst hat, was es im Osten aber nicht hier im Westen gab, verneinte Wetzel. Die Meinung, der Zusammenhalt im Osten war einfach besser, war für ihn nicht stimmig. Dieser sei in den achtziger Jahren in Orten wie hier in Naila nicht schlechter als in Thüringen gewesen. Er habe schnell hier neue Freunde und Bekannte unabhängig von der Ballongeschichte gehabt.

Er habe auch nicht angestrebt, wie von einer Zuhörerin gefragt, sein Haus in Pößneck im Saale-Orla-Kreis nach der Wende wieder zu bekommen, das schon in kurzer Zeit nach der Flucht an einen DDR-Bürger verkauft wurde. Da dieser das Haus rechtmäßig erworben hatte, bestand kein Anspruch seinerseits mehr darauf. Nach der Wende sei der neue Eigentümer in Konkurs gegangen, so dass die Bank das Haus ersteigert habe und dieses inzwischen schon mehrfach den Besitzer gewechselt habe. 1988 habe er dann selbst ein Haus in Hof gebaut, so dass er kein Interesse mehr an dem Haus hatte.

Ergänzung:

Peter Strelzyk wiederum eröffnete nach der Flucht ein Elektrogeschäft in Bad Kissingen, das laut Wetzel pleiteging. Die Strelzyks wurden auch im Westen von Stasi-Mitarbeitern ausspioniert und unter Druck gesetzt. 1985 gingen sie nach Basel in die Schweiz und kehrten erst nach der Wende 1989/90 nach Deutschland und wenige Jahre nach dem Mauerfall in ihr altes Haus in Pößneck in Thüringen zurück, während der jüngere Sohn in Basel blieb.

Im September 2018, als die von „Bully“ Herbig  verfilmte Flucht ein zweites Mal in die Kinos kam, gab es bei der Premiere ein Wiedersehen der beiden Familien, allerdings ohne Peter Strelzyk, der 2017 mit 74 verstorben war. Inzwischen wohnt Doris Strelzyk in der Nähe des einen Sohnes in Franken.

Petra Wetzel wiederum, so war am 26.9.2020 in der MZ zu lesen, lebt seit 2018 getrennt von ihrem Mann in Pegnitz bei Nürnberg . Wie dieser nimmt sie Termine im ganzen Land wahr, um als Zeitzeugin über die Ballon-Flucht faktenreich zu berichten.

Außerordentlich habe es sie gefreut, so sagte sie vor drei Jahren, dass den Ballon-Kinofilm von Bully Herbig mittlerweile schon weit über eine Million Menschen gesehen haben, denn es dürfe einfach nicht vergessen werden, wie die DDR ihre Bürger eingesperrt hat und ihnen viele Menschenrechte verwehrte.

Fotos Dieter Gürz aus Vortrag von Günter Wetzel in Veitshöchheim

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