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Die Stimme Mainfrankens war ein Klassenfeind der DDR - Eberhard Schellenbergers beeindruckende Lesung in der Veitshöchheimer Bücherei im Bahnhof über Stasi-Akten, Spitzel im Negligé und ein Epilog zum Ukrainekrieg

Veröffentlicht am von Dieter Gürz

30 Gäste herzlich willkommen hieß am Montagabend die Leiterin der Veitshöchheimer Bücherei im Bahnhof Dr. Astrida Wallat zur Vorstellung des Buches "Deckname Antenne" durch den Autoren, den als die Stimme Mainfrankens allseits bekannten BR-Reporter  Eberhard Schellenberger. Diesen Beinamen hat sich der Reporter und Moderator des Bayerischen Rundfunks erworben, der mehr als 40 Jahre  der Region seine Stimme gegeben hat, seit  1996 als Leiter des Regionalstudios in Würzburg, bis er dann im Herbst 2020  in den Ruhestand ging.

Aber nachwievor ist der Pensionär außerordentlich aktiv als Autor und Journalist mit einem eigenen Podcast „Box & Beutel“, so die Büchereleiterin, in dem er den mainfränkischen Menschenschlag in seiner Vielfalt vorstellt (siehe nachstehender Link auf Podcast).

Als Eberhard Schellenberger 1984 mit seiner Frau das erste Mal privat eine Brieffreundschaft in der ehemaligen DDR besuchte, heftete sich sogleich die Staatssicherheit an seine Fersen. Nach dem Mauerfall 1989 tauchten dann gleich zwei Akten der Staatssicherheit über ihn auf: Die Akte „Journalist“ in Cottbus zu den privaten Reisen und die Akte „Antenne“ in Würzburgs Partnerstadt Suhl.

Die letzten zwölf Monate hat der Ruheständler nun genutzt, um seine Reiseerlebnisse in die DDR, vor allem aber große Teile aus seinen beiden über 400 Seiten umfassenden Stasiakten in einem Buch niederzuschreiben. Die DDR-Staatssicherheit gab einer seiner Akten den Decknamen „Antenne“ und so heißt auch der Titel des Buches, das Anfang September 2022 im Würzburger Echter- Verlag erschien (ISBN: 978-3-429-05769-5, 1. Auflage 2022 Preis: 19,99 Euro).

Darin arbeitet der 65jährige auf 196 Seiten als spannende persönliche Lebensgeschichte die deutsch-deutsche Teilung und deren Überwindung  mit vielen persönlichen Anekdoten und Zitaten auf, die DDR-Spitzel über ihn zuletzt auch als  "Staatsfeind" angelegt hatten. Ein Fundus waren für ihn dabei auch alte Sendungen von ihm aus dem BR-Archiv.

 

 

Kurzbeschreibung des Buches durch den Echter-Verlag:

"Deckname Antenne - Als Journalist im Visier der Stasi"

Das deutsch-deutsche Zusammenleben begleitete Eberhard Schellenberger privat und als langjährigen BR-Reporter ein ganzes Leben lang und wurde zu seinem journalistischen „Lebensthema“. Schon bei seiner ersten, privaten Einreise in die DDR legte die Stasi eine Akte über ihn an. Bis zum Mauerfall wurden seine zahlreichen Besuche und journalistischen Reisen dorthin beobachtet und bespitzelt, Telefonate und Sendungen des BR abgehört. Als er später seine Stasi-Akten - aus denen er hier umfangreich zitiert - sichtet, findet er neben fast schon Skurrilem Nichtigkeiten und Belangloses, aber auch viel Perfides und es wird ihm klar, dass er in der DDR zeitweise wie ein Staatsfeind behandelt wurde. Eine der Akten trägt den Decknamen Antenne. Und es wurde ihm auch deutlich, auf welchem Pulverfass gerade die Menschen in Unterfranken und Thüringen an der Nahtstelle zwischen Ost und West, zwischen Warschauer Pakt und Nato saßen. In der Nacht der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 lieferte er mit Tränen in den Augen am ehemaligen Grenzübergang Eußenhausen-Meiningen inmitten feiernder Menschen die emotionalste Livereportage seines Reporterlebens."

 Vorlesung

Als Radio-Mensch durch und durch, verstand es Eberhard Schellenberger den Gästen in der Bücherei im Bahnhof Erlebtes spannend und mitreißend zu erzählen, die er mit vielen Fotos, Ausschnitten aus den Stasi-Akten und BR-Originaltönen hinterlegte.

 

Seine Geschichte begann in seiner Heimatstadt Zeil am Main. Dorthin kamen um 1960 noch vor dem Mauerbau Kinder aus dem Raum Bautzen zur Erholung auf Vermittlung von Kirchengemeinden. So entstand auch eine Freundschaft zwischen der Familie Schellenberger und einer Familie aus Sachsen.

In den 80er Jahren war der Journalist mehrfach privat in der DDR, um die Brieffreunde dort endlich einmal kennenzulernen. 1984 reisten die Schellenbergers in die Oberlausitz. Wir wurden total durchgefilzt", erzählt Schellenberger. Mit dem Geruch nach Kohle und Trabi sei es einfach eine ganz andere Welt mit vielen lieben, netten Menschen und einer wunderschönen Gegend gewesen. Das Fotoalbum erinnere noch heute an unvergessliche Ausflüge zu Basteibrücke, Elbsandsteingebirge und Dresden. Schon damals heftete sich die Staatssicherheit an seine Fersen.

Die Lage verschärfte sich, als Schellenberger erstmals als Radioreporter im Sommer 1985 die Einreise in die DDR begehrt, um  in Dresden für eine Sendung "40 Jahre nach der Zerstörung von Dresden und Würzburg - Bilanz des Wiederaufbaus an Elbe und Main"  zu recherchieren. Die Reise wurde genehmigt, ihm jedoch ein "journalistischer Begleiter" zugeordnet.

Wie er in der Stasiakte lesen konnte, war dies "IM Rudi Rund", der ihm vier Jahre lang bis zum Fall der Mauer 1989 an den Fersen  geklebt sei. Dank dessen minutiösen Aufzeichnungen, mitgeschnittenen Telefonanrufen und Beiträgen, war er nun  in der Lage, seine Leserschaft mit auf eine spannende Zeitreise zu nehmen.

Immer mehr in den Fokus der Staatssicherheit gelangte der Autor, als sich Anfang 1988 eine Städtepartnerschaft zwischen Würzburg und Suhl anbahnt. Mehrfach reiste er mit Würzburger Delegationen in die thüringische Bezirksstadt.  In der Akte "Antenne" fand er Beobachtungsprotokolle genauso wie Abschriften von Telefonaten und Radioreportagen, mit denen er  eine Brücke durch die Luft schaffte.

Das im linken Bild heimlich von  Schellenberger gemachte Foto, das sich in seiner Stasi-Akte fand, änderte nichts daran, dass der bärtige Franke drei Jahr lang als "weiblich" geführt wurde.

Mit über 30 Jahren Abstand, so berichtet Schellenberger, habe er sich beim Schreiben oft selbst über sich gewundert, wie unvorsichtig und naiv er damals gewesen sei. Einigen "Inoffiziellen Mitarbeitern" habe er durch seine Plaudereien richtig Stoff geliefert. Menschen, mit denen er sich angefreundet hatte und denen er viel Privates erzählte, hätten ein komplettes Persönlichkeitsbild von ihm erstellt.

Es sei ihm beim Studium seiner Stasiakten deutlich geworden, so der Autor, auf welchem Pulverfass gerade die Menschen in Unterfranken und Thüringen an der Nahtstelle zwischen Ost und West, zwischen Warschauer Pakt und Nato saßen.

Schellenberger schildert in seinem Buch auch die Ende 1988 erfolgte Gründung des Freundeskreises Würzburg-Suhl durch  Bernd Höland, was parallel zur offiziellen Städtepartnerschaft erfolgte. Über Höland wurde von der Stasi die Akte "Drahtzieher" angelegt .

Darin war  auch zu lesen, dass als Ehepaar getarnte Spitzel  Höland zum Übernachten in ihre Wohnung eingeladen hatten, wo jedoch der Versuch der Ehefrau gescheitert sei,  diesen, vom Ehemann heimlich gefilmt, im rosafarbenen Negligé zu kompromittieren und zu erpressen.

Ausführlich berichtete Schellenberger, wie es dazu kam, dass am 22. September 1988 Würzburgs Oberbürgermeister Zeitler und der SED-Rathauschef Joachim Kunze die 34. innerdeutsche Städtepartnerschaft im südthüringischen Suhl unterzeichneten und  am 15. November schließlich die Unterzeichnung in Würzburg folgte. Akkustisch konnten die Büchereigäste die Rede von OB Zeitler vernehmen.

Dass der Klassenfeind im Westen nicht schläft, das wussten jene Suhler Offiziellen, die im April 1989 die Partnerstadt Würzburg besuchten. Um die Moral der Ost-Besucher zu zermürben, luden die Wessis um OB Zeitler diese in eine Nachtbar ein. Die Thüringer erwiesen sich als sozialistische Musterschüler und lehnten dankend ab, ebenso wurde durch den Verzicht auf den Besuch des Schwimmbades und des Solariums, wo die Reporter warteten, Gefährdungen für den ordnungsgemäßen Aufenthalt der Delegation ausgewichen.

Recherchen ergaben, dass der Bezirk Suhl damals rund 500 000 Einwohner hatte. Neben den 1557 hauptamtlichen Mitarbeitern besaß die Suhler Stasi rund 4000 "inoffizielle Mitarbeiter", die ihre Mitbürger bespitzelten. Im Stasi-Postamt wurden pro Tag an die 3000 Briefe geöffnet und gelesen.

In der Nacht der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 lieferte Eberhard Schellenberger mit Tränen in den Augen am ehemaligen Grenzübergang Eußenhausen-Meiningen inmitten 30.000 feiernder Menschen die emotionalste Livereportage seines Reporterlebens.

Die Gäste in der Bücherei konnten nochmal miterleben, wie Schellenberger zur Deutschlandhymne live auf Sendung ist: "Ja und den Menschen, denen laufen hier wirklich die Tränen über die Wangen, sie umarmen sich, sie küssen sich, schwarz-rot-goldene Fahnen werden geschwungen." Von den sechs am Grenzübergang hängenden DDR-Fahnen gelangte eine in seinen Besitz.

Regelmäßig berichtete nun das BR-Regionalstudio von Verbrüderungsfeiern im ehemaligen Zonenrandgebiet, darüber hinaus am 1. Juli 1990 anlässlich der Einführung der D-Mark im Osten live aus dem Suhler Studio des DDR-Rundfunks für die BR-Radiowellen. Da erreichte Schellenberger die Anfrage der DDR-Kollegen aus Erfurt, ob er nicht auch für das Radio der DDR einen Beitrag mit O-Tönen absetzen könne, was der einstige Klassenfeind dann auch gerne tat.

Im Jahr 2019 ist zum 30jährigen Jubiläum des Mauerfalls in Berlin am 10. November die Bundeswehr längst aus Mellrichstadt abgezogen, es gibt keine Grenze mehr, die zu verteidigen wäre. Der frühere Zugführer Udo Straub hat den Kameradschafts- und Freundeskreis der Garnison Mellrichstadt e.V. gegründet, dem auch ehemalige NVA-Soldaten beitraten, wurden aus Gegnern Freunde.

Im früheren Stabsgebäude des Panzergrenadierbataillon 352 hat der Freundeskreis in Mellrichstadt am Originalschauplatz einmalig in Deutschland auf vier Etagen das "Dokumentationszentrum Hainbergkaserne - Eine Grenzgarnison im Kalten Krieg" mit einem Atombunker mit ABC-Schleuse eingerichtet, in dem  in einer Ausstellung u.a. Grenzorgane OST und Grenzsicherungskräfte WEST und NVA und Warschauer Pakt im Kalten Krieg gezeigt werden.

In einem Tresor waren vor dem Ende des Kalten Krieges die streng geheimen Operationsbefehle für das Bataillon für die Verteidigung des Grabfelds bei Königshofen  im Fall der Fälle des Angriffs aus dem Osten gelagert durch Legung von Minen und Sprengfallen (im Bild oben ist unter Glas auf zehn Quadratmeter das Operationsgebiet des Bataillons dargestellt).

Die Dörfer des Grabfelds hätten damals bei einem Einmarsch gebrannt, so wie der Autor kurz zuvor in seinem Buch als Schreckenszenario fiktiv beschreibt, dass es auch ganz anders hätte laufen können, als im November 1983 NATO und Warschauer Pakt beidseits der Zonnengrenze den Ernstfall übten und die Streitkräfte  des Warschauer Paktes  mit ihren Panzern entlang des gesamten Grenzabschnitts zwischen Fladungen und Mellrichstadt in westdeutsches Gebiet eindrangen.

Epilog des Autors anlässlich des Ukrainekrieges

Eigentlich wollte Eberhard Schellenberger, wie er sagte, im Januar 2022 hier das Buch enden lassen, bis dann am 24. Februar Russland seinen zerstörerischen Krieg in der Ukraine begann. Am Schluss seines Vortrags las er dann den noch von ihm eingefügten Epilog vor:

"Die russische Invasion ist von Beginn an Putins Angriffskrieg mit Menschen verachtender Härte und Zerstörung. Der russische Präsident wurde von westlichen Staatschefs offen als Aggressor, Verbrecher und Mörder bezeichnet. Das Verteidigungsbündnis, die NATO  verstärkt an den Grenzen Polens und der baltischen Staaten die militärische Präsenz. Es ist wieder Krieg in Europa mit einer neuen Blockbildung, der Kalte Krieg wieder zurück, wird plötzlich zum Heißen Krieg. Selbst die Gafahr einer atomaren Auseinandersetzung ist nicht ausgeschlossen. 

Hier gehen die Gedanken an den Einsatzraum wie im Dokumentationszentrum in Mellrichstadt dargestellt. Jetzt stehen Bundeswehr und andere NATO-Truppen auf dem Baltikum und sichern das Gebiet des Verteidigungsbündnisses gegen russische Truppen. Bei Redaktionsschluss des Buches Ende März ist noch in keiner Weise abzusehen, wohin dieser Krieg in Europa treibt.

Im Rückblick auf die dramatischen Ereignisse 1989/90 spüren wir die große Gunst der damaligen Konstellation. Allen voran hat der sowjetische Präsident Michael Gorbatschow dazu beigetragen, zugleich auch westliche Staatschefs, die der Deutschen Wiedervereinigung nach dem Mauerfall keine Steine in den Weg gelegt haben. Sie vertrauten dem neuen wieder größeren Deutschland, dass es eine friedliche Rolle in Europa spielen würde.

Eine große Dankbarkeit gilt dem friedlichen Wunder von Wende, Mauerfall und Wiedervereinigung, mehr denn je in der Gesamtsicht ein außerordentliches historisches Ereignis in einer Welt von Hass, Gewalt, Machtstreben, kriegerischen Auseinandersetzungen."

Die junge Journalistenkollegin Sarah Beham schrieb denn auch an Schellenberger: "Ich frage mich als junger Mensch, hat man denn gar nichts aus der Geschichte gelernt. Muss sich alles wiederholen, jeder Fehler, jeder Krieg. Es macht mich unfassbar traurig. Ich hatte das große Glück, ohne Krieg leben zu dürfen und hätte mir niemals vorgestellen können, in so eine Situation zu kommen."

Schlussworte des Autors: "Gerade die junge Generation packt jetzt auch an, hilft, nimmt Flüchtlinge auf. Vielleicht hat die Geschichte doch etwas gelehrt."

"Es war sehr eindrucksvoll", mit diesen Worten bedankte sich die gemeindliche Kultureferentin Dr. Martina Edelmann beim Autoren für seine Lesung mit einem EU-Mittelpunkts-Wein.

Viele die hier sitzen, so resümierte  Edelmann, haben diese Zeit selbst erlebt und sehr viel von der DDR mitbekommen.  Die Schilderungen von Eberhard Schellenberger hätten nun in Erinnerung gerufen, wie irrsinnig, wie teilweise komisch, wie witzig, wie dilettantisch, wie gefährlich dieses System war. Es sei deshalb sehr wichtig, dass Schellenberger seine persönlichen Erlebnisse weitererzählt, vor allem denen, die diese Zeit überhaupt nicht erlebt haben.

„Ich habe dieses Buch auch für die inzwischen nachgewachsene Generation geschrieben“, erklärte denn auch der Autor. „Denn auf diese wirken diese Geschichten und Erlebnisse aus der Mitte Deutschlands völlig unwirklich und unbegreiflich“. So freue er sich, nun zu weiteren Vorträgen auch in Schulen aufzubrechen. Gerade auch für Schulklassen könne das Buch "Deckname Antenne" anschaulichen Geschichtsunterricht liefern.

In der Bücherei nutzten bereits einige der 30 zur Vorlesung gekommenen Gäste die Gelegenheit, ein von ihm signiertes Buch zum Schmökern mit nach Hause zu nehmen.

Fotos Dieter Gürz

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