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aktualisiert: Der mit 2500 Euro dotierte „Unterfränkische Inklusionspreis 2022“ ging in der Kategorie „Kultur, Natur und Umwelt“ an das blinde Ehepaar Sonja und Rainer Brell in Veitshöchheim

Veröffentlicht am von Dieter Gürz

Die seit 20 Jahren in Veitshöchheim wohnhaften blinden Eheleute Sonja und Rainer Brell

Foto Dieter Gürz

Es ist höchst bewundernswert und verdient allergrößten Respekt, wie sie selbstbestimmt und voller Lebensfreude den Alltag meistern und mit ihren Aktivitäten nicht nur sich, sondern auch das Leben anderer beglücken.

 Der 54-jährige Rainer Brell ist in der Rhön in der Gastronomie aufgewachsen und so war es auch nicht verwunderlich, dass er wie seine drei Brüder den Beruf des Kochs erlernt hat. Leider konnte er diesen schönen Broterwerb im elterlichen Hotel ab seinem 21. Lebensjahr nicht mehr professionell ausüben, da er völlig erblindete. Die Leidenschaft zu gutem Essen und Trinken ist jedoch bei ihm geblieben. Sein Wissen darüber gibt er auf seinem Blog preis. Denn Brell ist IT-Spezialist. Nach seiner Rehabilitation im BFW Veitshöchheim, lernte er im BFW Heidelberg das Programmieren, arbeitete dann über 20 Jahre im IT-Bereich und war in den vergangenen sieben Jahren in der Gastronomie im Bereich Marketing, Webdesign, Buchungsmanagement, Kundenkommunikation und IT tätig. Brell: "Seit dem 1. Oktober 2022 bin ich arbeitssuchend und offen für neue berufliche Herausforderungen."

Die sportliche Betätigung ist trotz seiner Erblindung sein zweites großes Hobby, ebenso auch die seiner Frau Sonja. Die 61jährige hat ihre Sehkraft ab ihrem 15. Lebensjahr durch eine Netzhauterkrankung  immer mehr verloren, bis sie dann mit 30 erblindet ist. Vor der Erblindung als Bilanzbuchhalterin tätig, brachte sie danach über 20 Jahre bis zur ihrem Ruhestand als Lehrerin  im BFW Veitshöchheim den Rehabilitanden die Blindenschrift bei, so auch ihrem späteren Ehemann, dem sie vor 26 Jahren das Jawort gab.

Wie das Ehepaar glücklich und voller Stolz erzählt, haben sie in den letzten 20 Jahren alljährlich voller Abenteuerlust sportliche Aktivitäten entfaltet, die schon für sehende Menschen eine große Herausforderung darstellen. So unternahmen sie mit dem Rad Tandemtouren von Veitshöchheim nach Venedig und nach Budapest, 1500 Kilometer von Berlin nach Zürich, in Umbrien und fünfmal auf Mallorca,  verbrachten Wanderurlaube auf Elba, Südtirol und Teneriffa, wanderten von Garmisch zum Gipfelkreuz der Zugspitze oder von Veitshöchheim zur Wasserkuppe, absolvierten einen Tandemfallschirmsprung und die Triatlon-Challenge in Roth mit 3,8 km Schwimmen (Rainer), 180 km Tandemfahren (Sonja) und 42 km Laufen (Rainer),  waren zum Alpinskifahren in Arosa und in Sellaronda (Südtirol),  absolvierten zweimal den Halbmarathon in Würzburg, wanderten 2019 den 160 Kilometer langen West Highland Way in Schottland.

Für all diese sportlichen Aktivitäten ist  eine Assistenz notwendig. Zum Wandern, Joggen, Walken haben sie einige Bekannte, die sie dabei unterstützen. Auch für das Radfahren benötigen sie eine sehende Person, die das Tandem pilotiert. Beide schwimmen auch gerne. Rainer Brell: "Im Schwimmbad orientieren wir uns am Beckenrand und kennzeichnen uns mit einer Bademütze, die uns als nichtsehend ausweist."  Das Schwimmen in offenen Gewässern ist dagegen  für sie nur mit Assistenz und Orientierung per Zuruf möglich. Für die Indoor-Aktivitäten nutzen sie Trampolin, Laufband und Ergometer.

Für lange Wandertouren haben die Brells aus der Not  eine Tugend gemacht. Seit sechs Jahren bieten sie einmal pro Jahr und in enger Kooperation mit dem von Brells Bruder Thomas geführten „Genussgasthof Fuldaquelle“ in Gersfeld Angebote für Menschen mit Handicap an, was sich bereits in ganz Deutschland herumgesprochen hat. So war das Ehepaar Brell zuletzt im August 2022  Initiator und Organisator der inklusiven sechstägigen Genusswanderung im Biosphärenreservat Rhön mit 50 Teilnehmern, von denen die Hälfte erblindet war, die im August unter dem Motto „Der Hochrhöner ohne Grenzen" über 150 Kilometer und 4000 Höhenmeter führte und ein großes Medieninteresse auslöste. Dafür zeichnete der Bezirk Unterfranken die Brells für diese  Genusswanderung mit dem 2500 Euro dotierten „Unterfränkischen Inklusionspreis 2022“ in der Kategorie „Kultur,  Natur und Umwelt“  aus.

Laudatio des Bezirks:

"Für Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit ist es oft schwierig, die Natur erleben zu können. Mit dem Projekt „Inklusive Genusswanderwoche im Biosphärenreservat Rhön“ leisten Sonja und Rainer Brell  wertvolle inklusive Arbeit, denn dadurch können Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit die Natur, vor allem das schöne Biosphärereservat in der Rhön, näher kennenlernen. Zugleich bietet dieses Projekt aber auch die Möglichkeit, dass Menschen mit und ohne Sinnesbehinderung gemeinsam wandern und dabei die Natur mal „mit anderen Augen sehen“ bzw. mit anderen Sinnen erfahren."

Sie sind beide blind: Wie das Veitshöchheimer Ehepaar Brell den Alltag meistert

Angesprochen, wie sie im Alltag zurechtkommen, sagt Rainer Brell: "Als blindes Ehepaar können wir sehr viel selbst bewerkstelligen. Vieles davon ist wesentlich zeitaufwändiger und bedarf einer strukturierten und konzentrierten Arbeitsweise. Generell müssen wir wesentlich mehr planen und vorausschauend agieren, denn spontane Aktionen sind selten realisierbar."  Seine Frau ergänzt: "Für viele Dinge benötigen wir sehende Unterstützung durch hilfsbereite Nachbarn, Freunde und Bekannte, so auch beim Einkauf in den Lebensmittelmärkten oder beim Kaufen von Kleidung, denn ein gepflegtes Äußeres ist uns wichtig."  Den Bäcker und Metzger ihres Vertrauens können sie dagegen fußläufig erreichen. Obst und Gemüse liefert ihnen ausnahmsweise die Gärtnerei Klinger in Veitshöchheim.

Assistenz benötigen sie auch, wenn sie Kabarett, Theater, Kino und Konzerte besuchen oder Urlaubsreisen machen wollen.

 

Die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs sowie von Fernzügen lassen sich dagegen meist selbständig nutzen. Die Deutsche Bahn biete einen Mobilitätsservice auf größeren Bahnhöfen an, welcher beim Umstieg behilflich ist.

Das Kochen ist für Rainer Brell relativ einfach, da er vor seiner Erblindung  den Beruf des Koches erlernt hatte. Brell: "Wir nutzen einen handelsüblichen Herd, der erfreulicherweise noch mit Drehknöpfen ausgestattet ist."

Viele Lebensmittel würden sie mit dem Tastsinn erkennen, Zucker und Mehl akustisch durch Schütteln. Sie nutzen auf dem Smartphone etwa zur Unterscheidung Weizen- oder Dinkelmehl die App Seeing AlI  zur Texterkennung und Barcode-Apps zum Auslesen von Strichcodes. Gewürzstreuer markieren sie mit Blindenschrift und Weinflaschen und Spirituosen kennzeichnen sie mit speziellen Etiketten, die sie mit Sprachnotizen versehen.

Ihre Wohnung reinigen die Brells mit handelsüblichen Mitteln selbständig, gelegentlich unterstützt durch eine Haushaltshilfe, ebenso auch ihre Wäsche mit einer handelsüblichen Waschmaschine, die mit einer speziellen taktilen Folie Versehen ist, damit sie die unterschiedlichen Waschprogramme und Temperaturen auswählen können. Das Bügeln der Wäsche dauere zwar länger, werde jedoch mit einem normalen Bügeleisen getätigt. Sonja Brell: "Um die Wäsche für das Anziehen oder für den Waschvorgang farblich zu sortieren, benutzen wir ein elektronisches Farberkennungsgerät, was uns auf Tastendruck ansagt, um welche Farbe es sich handelt." Bargeld heben sie bei speziell mit Sprachführung ausgestatteten Geldautomaten ab.  Überweisungen nehmen sie selbständig online vor. Giro- und Kreditkarten sowie ApplePay sind für sie verwendbar.

Rainer Brell bedauert, dass die angestrebte Digitalisierung der Behörden noch nicht in alle Bereiche vorgedrungen ist: "Was sich gerade für uns als eine sehr große Barriere darstellt ist, dass wir leider nach wie vor zum Ausfüllen von nicht digitalen Formularen sehende Hilfe benötigen. Selbst digitale Formulare müssen mit einer Legitimation versehen werden. Dies wäre oft mit dem digitalen Personalausweis möglich, der wiederum nicht barrierefrei zugänglich ist."

Für Kultur, Freizeit und Sport würden sich die Brells auf weitere nette Menschen freuen, die sie dabei unterstützen. Wer sie einmal persönlich kennenlernen möchte, kann sie unter der E-Mail-Adresse kontakt@brell.net kontaktieren. Gerne nimmt Rainer Brell unter dieser Adresse auch Stellenangebote entgegen.

 

 

Zusammen mit seiner Frau Sonja geht Rainer Brell gerne wandern. Beide sind beim Wandern darauf angewiesen, dass sie von einer Begleitperson, so wie im Bild rechts Sonja Brill, durch ein kurzes Seil mit jeweils einer Nuss an den Enden geführt werden.

Das Ehepaar Brell war Initiator und Organisator der inklusiven Wanderwoche mit einer 50-köpfigen Gruppe, die im August unter dem Motto „Der Hochrhöner ohne Grenzen" über 140 Kilometer und 4000 Höhenmeter führte und ein großes Medieninteresse auslöste (siehe nachstehende Links).

Das Besondere an der Wanderung war, dass die Hälfte der Teilnehmer blind oder sehbehindert war. Eine solche Strecke ist schon für viele sehende Menschen eine große Herausforderung. Blinde würden sie alleine gar nicht bewältigen können. Die Wandergruppe formatierte sich jeden Tag zu neuen Zweierteams, bestehend aus einen blinden und einem sehenden Wanderer. Die Sehenden sind das Auge für die Menschen mit Handicap. Sie beschreiben die Umgebung und helfen bei Stufen, Wurzeln oder anderen Hürden. Damit machen sie einen Weg erlebbar, den Blinde und Sehbehinderte allein nicht gehen könnten. So blieb die sechstägige Tour für jeden abwechslungsreich, man konnte stets neue Kontakte knüpfen und immer neue persönliche Geschichten erfahren.

Die Resonanz, vor allem aber das Feedback der Teilnehmer gibt  Rainer Brell nach seinen Worten die Kraft, neue Touren zu planen und verlässliche Begleiter zu akquirieren.

 

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