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60 Gäste erlebten Jiddische Lieder und Klezmermusik mitreißend und vielschichtig in der Bücherei im Bahnhof

Veröffentlicht am von Dieter Gürz

Wo man singt und liest, da lass dich ruhig nieder …

»Denke nicht, dass du alles verloren hast, du hast immer etwas, und sei es nur ein Lied«, davon war der jüdische Liedermacher Daniel Kempin zutiefst überzeugt. Ein schöner Satz und durchaus ein bisschen trostreich in unserer komplizierten Zeit. Ein Lied kann man immer brauchen, aus Anlass des Jubiläumsjahres "1700 Jahre jüdische Kultur in Deutschland" besonders gern ein jüdisches. Und wer hätte dieses besser darbieten können als Claudia von der Goltz gemeinsam mit ihrem Mann Bernhard (Gitarre) und Rainer Schwander (Saxophon und Akkordeon)?

Die drei Veitshöchheimer Musiker gehören zum Tango & Klezmer Quintett »Hot & Cool«, mit dem sie unter anderem beim Klezmerfestival in Zfat/Israel zu gastierten. Das zeugt von einer Professionalität, die auch der Abend in der Bücherei zu jedem Zeitpunkt ausstrahlte. Mit viel Zugewandtheit, Verve und einem intensiven Gespür für Zwischentöne präsentierte das Trio am vergangenen Donnerstag vor ausverkauftem Lesecafé ein abwechslungsreiches Programm.

Das Jiddische stammt ursprünglich vom Mittelhochdeutschen ab und war über Hunderte von Jahren die Umgangssprache der europäischen Juden. Da es nur noch in kleinen Sprachinseln in Großstädten wie New York, Brüssel oder Jerusalem gesprochen wird, kommt dem Liedgut eine zentrale Bedeutung für seine Bewahrung zu. Der reiche, auf Jiddisch überlieferte Liederschatz spiegelt die ganze Bandbreite des Lebens wider: Von Liebe und Sehnsucht (»Neshumele«; »Friling«) bis hin zu Arbeit und Glauben (»Dem Millner trern«).
 

Zudem werden häufig Flucht und Vertreibung thematisiert (»Di grine Kusine«). Neben Gesangsnummern bot das Programm Instrumentalstücke aus dem Repertoire der Klezmorim, die meist bei Hochzeiten, Familienfeiern zum Tanz aufspielten – und zugleich Trauerfeierlichkeiten umrahmten. Bei der Klezmermusik, die durch Vertreter wie Giora Feidman oder »Zupfgeigenhansel« große Popularität erlangte, liegen Freude und Schmerz, Melancholie und Vitalität eng beieinander, sie sind quasi zwei Seiten der gleichen Medaille.

In Veitshöchheim wusste man dies zu schätzen. Ein begeisterter Zuhörer: »Dass man in einem wichtigen Jubiläumsjahr nah am derzeitigen EU-Mittelpunkt jiddische Lieder derart mitreißend und vielschichtig erleben darf, hat eine schöne Symbolik. Noch dazu im besonderen Flair der Bücherei!« Tatsächlich wurde an diesem Abend nicht nur die mit dem Umbau 2020 entstandene, aus dem Treppengeländer herunterklappbare Bühne eingeweiht, sondern auch die neuen, erst vor kurzem installierten Scheinwerfer.

In unserem Sprachgebrauch finden sich immer wieder jüdische Wörter, deren Herkunft wir uns zum Teil vielleicht gar nicht mehr so bewusst sind. »Schlamassel« etwa bedeutet »Pech« und »Masl« das Gegenteil davon, also Glück! Angesichts eines solch rundum gelungenen Abends hatte das Publikum sicherlich mehr als nur »a bisele masl«. Büchereileiterin Astrida Wallat (links) hofft auf baldige Wiederholung.

Anmerkung: Durch die Anwendung der 3G-Plus-Regel konnte die Veranstaltung ohne Maske und Abstand über die Bühne gehen.

Text:  Astrida Wallat

Fotos: Dieter Gürz

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