Beeindruckende Lesung über Jehuda Amichai mit Schauspieler Rainer Appel und Stadtheimatpfleger Dr. Hans Steidle in der Veitshöchheimer Bücherei
Nahezu zweieinhalb Stunden lang zogen bei der Lesung in der Veitshöchheimer Bücherei der Würzburger Historiker und Stadtheimatpfleger Dr. Hans Steidle (links) und der Schauspieler Rainer Appel (rechts) die Zuhörer in ihren Bann.
Ein gut gefülltes Lesecafé bescherte am Samstag in der Bücherei im Bahnhof eine Veranstaltung im Rahmen von „Würzburg liest“, zu der die Bücherei in Zusammenarbeit mit der Simon-Höchheimer-Gesellschaft eingeladen hatte. Im Focus stand nach Leonhard Frank und Jakob Wassermann nun bei der dritten Veranstaltungsreihe das Werk von Jehuda Amichai "Nicht von jetzt, nicht von hier".
Jehuda Amichai zählt zu den großen Würzburger Autoren, schließlich wurde er hier 1924 mit dem Namen Ludwig Pfeuffer geboren. Er stammte laut Datenbank Munzinger aus einer orthodoxen jüdischen Familie, die seit Generationen als Weinhändler in Würzburg ansässig war. 1935 emigrierte er mit seinen den Zionismus unterstützenden Eltern nach Palästina. In Israel nahm er den Namen "Amichai" (Mein Volk lebt) an. Seit 1937 lebte er in Jerusalem. Er empfand es immer als besonderes Privileg und Glück, dass seine große, weit verzweigte Familie den Genozid überlebte. Am 22. September 2000 erstarb der Schriftsteller in Israel.
Während Appel prägnante Textstellen des Buches rezitierte, erzählte Steidle zu Beginn und zwischendrin immer wieder viel über das Leben von Amichai und die Handlung des Romans, immer wieder durch ausdruckstarke Fotos in Szene gesetzt, so dass den Zuhörern trotz Überlänge der Lesung nicht langweilig wurde.
Wie Steidle ausführte, stehe Amichai für die Generation, die zwar wegen des Naziregimes nach Palästina emigrierte, aber auch später nie von ihrer Heimat loslassen konnte. Im 1963 erschienenen, autobiographisch gefärbten Roman "Nicht von jetzt, nicht von hier" habe er nach dem ersten Wiedersehen mit seiner Heimatstadt 1958 seine Erinnerungen an Würzburg aufgearbeitet. Einerseits war es die Sehnsucht nach dem Ort der Kindheit, aber auch der Drang, sich mit den politischen Verhältnissen der Heimatstadt auseinanderzusetzten, die letztendlich zur Deportation der Juden führten.
Dafür wurde Jehuda Amichai 1981 mit dem Kulturpreis der Stadt Würzburg ausgezeichnet. Amichai gilt als einer der meistgelesenen und bedeutendsten modernen israelischen Schriftsteller In Deutschland setzte die Rezeption seiner Werke allerdings mit großer Verspätung ein: "Nicht von jetzt, nicht von hier" erschien 1963 in der Originalsprache Hebräisch, 1968 in englischer Übersetzung, aber erst 1992 auf Deutsch.
Auch in Würzburg gab es Judenverfolgung und Deportation. Deswegen sei es wichtig, so konnte man vernehmen, ,dass sich die demokratische Gesellschaft gegen erstarkenden Rechtspopulismus, Fremdenhass und Antisemitismus positioniert.
"Nicht von jetzt, nicht von hier" ist der einzige Roman von Amichai, dessen Ruhm sich in erster Linie auf seine Lyrik begründete. Er erzählt, einen Sommer lang, die Geschichte des jungen Jerusalemer Archäologen Joel. In einem Traum begegnet Joel seiner Jugendfreundin Ruth, die im KZ ermordet worden war, und ihm wird klar, dass der Zeitpunkt gekommen ist, seine Vergangenheit, Schicht für Schicht, zu ergründen. Amichai verarbeitet dazu in dem Buch reale Orte, Personen und Ereignisse mit fiktionalen Elementen. Der Leser und Zuhörer wird belohnt mit Amichais ebenso präzisen wie poetischen Sprache.
Da ist einerseits die Sehnsucht nach der Kindheit in dem romantischen deutschen Städtchen Weinburg (Würzburg), gleichzeitig ist es aber auch der Drang, Rache zu üben an den während des Naziregimes für die Judendeportationen Verantwortlichen. Soll er die große Liebe in Jerusalem suchen oder sich mit seiner Kindheit in Weinburg auseinandersetzen. Die beiden Versionen von Joels Geschichte werden eng miteinander verwoben und in kurzen Kapiteln wechselseitig erzählt. Amichai lässt beide Handlungen parallel laufen und Joel durch das Nachkriegs-Würzburg und durch Jerusalem wandern, auf einer faszinierenden Suche, die die den Besuchern die Städte, Menschen und Geschichte mit ihrer Vergangenheit und Problematik vor Augen führt. In dem autobiografisch zu verstehenden Roman geht es um die Sehnsucht nach dem Kindheitsparadies der Heimatstadt, aber auch um Hass und Rachegefühle, weil durch den Holocaust dieser Sehnsuchtsort vernichtet wurde.
Spannungsreich wechseln sich Schauplätze und Erzählperspektive, von der kargen, sonnenverbrannten israelischen Wüstenlandschaft in die lieblich-grüne deutsche Stadt und ihre Umgebung.
Es geht um das Vergessen der Vergangenheit, um in der Gegenwart leben zu können, und zugleich die Notwendigkeit, ja der Zwang des Erinnerns.
So lässt Amichai auch Erlebnisse aus seiner Kindheit in Würzburg in seinen Roman einfließen, etwa sein Geburtshaus in der Augustinerstraße oder das Textilwarengeschäft der Familie,
immer wieder die Ermordung seiner Freundin Ruth durch die Nazis,
seine alte Schule, die nun eine Ballett-Schule ist, wo er auf einer Tafel seinen Namen entdeckt und das Trümmerfeld der zerbombten Synagoge.
Joel machte in dem Roman bei seinen Rundgängen durch Weinburg (Würzburg) immer wieder Reklame für das Waschmittel Persil und das Mundwasser Odol. Dies habe symbolische Bedeutung, so erklärte der Stadtheimatpfleger, denn beide Produkte seien „Symbole für den Wunsch der Deutschen nach einer reinen Weste, nach einem Schlussstrich, nach einem von der Vergangenheit unbefleckten Neuanfang“.
Steidle stellte in seinem autobiographischen Bezug den Verlust der Heimat dar,
Geborgenheit und Liebe,
die Sesshaftwerdung der Groß-Familie Pfeuffer in Palästina.
Amichai gehörte laut Steidle zu der Generation der Israelis, deren prägende Erlebnisse Kriege waren: Als Freiwilliger der Jüdischen Brigade nahm er am Kampf der Alliierten gegen NS-Deutschland teil. Später kämpfte er in den Unabhängigkeitskriegen des jungen Staates Israel gegen die arabischen Nachbarn.
Als Kontrast zu den Erlebnissen in Würzburg steht die in Jerusalem gefundene große Liebe: Joel verliert sich einer heftigen, „unvernünftigen“ Leidenschaft mit der amerikanischen Ärztin Patricia.
Amichai beschreibt im Roman noch einfühlsam den Liebesakt von Joel und Patricia,
wenig später macht das Ende des Romans betroffen, als Joel in einer verlassenen Stadt von einer Mine zerfetzt wird.