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Der lange Weg zur Inklusion - Infoveranstaltung im Veitshöchheimer Rathaus anlässlich des Europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung

Veröffentlicht am von Dieter Gürz

Die Veitshöchheimerin Sibylle Brandt (re.) und die SPD-Ortsvereinsvorsitzende Gertraud Azar hatten am Sonntag-Nachmittag anlässlich des  Europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und dem 10-jährigen Bestehen der UN-Behindertenrechtskonvention zu einer Info-Veranstaltung in den Rathaussitzungssaal eingeladen, um auf die Situation von Menschen mit Behinderung in Deutschland aufmerksam zu machen und sich dafür einsetzen, dass alle Menschen gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können.

Der Einladung gefolgt waren auch der SPD-Landtagsabgeordnete Volkmar Halbleib, Bürgermeister Jürgen Götz und seine beiden Stellvertreter Winfried Knötgen und Elmar Knorz sowie Christina Feiler, Grünen-Bezirksrätin und Behindertenbeauftragte des Bezirks Unterfranken (stellvertretend) und der Gemeinde Veitshöchheim.

Seit 24 Jahren veranstalten Verbände und Organisationen der Behindertenhilfe und -selbsthilfe rund um den 5. Mai überall in Deutschland Podiumsdiskussionen, Informationsgespräche, Demonstrationen und andere Aktionen. Dabei geht es darum, die Kluft zwischen dem im Grundgesetz verankerten Anspruch der Gleichberechtigung für alle Menschen und der Lebenswirklichkeit Stück für Stück zu überwinden.

Brandt ist die Landesvorsitzende der im Oktober 2012 ins Leben gerufenen "Arbeitsgemeinschaft Behinderte Menschen in der Bayern-SPD - Selbstaktiv",  die sich in der SPD politisch einmischen,  aktiv mitgestalten, mitbestimmen und mit verantworten wollen.

Unter der Schirmherrschaft von Kurt Beck, Ministerpräsident a.D. Rheinland-Pfalz und Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung (im Bild mit Brandt und Azar) startete die Selbstaktiv-AG der SPD die Kampagne „Krüppel war gestern, heute ist Mensch! Vom Darwinismus zur Inklusion“. Die Kampagne unterstützten vor Ort der SPD Ortsverein Veitshöchheim, die Caritas-Don Bosco gGmbH Würzburg, der AWO Bezirksverband Unterfranken e.V. - Behindertenhilfe und Inklusion und das Diakonische Werk Würzburg e.V.

Die Resonanz der Veranstaltung zeige, so stellte die selbst sehbehinderte Sibylle Brandt am Ende fest, dass der Gedanke der Inklusion in Veitshöchheim angekommen ist.

Unter dem Titel "Der lange Weg der Inklusion" hatte sie zuvor in einer Zeitreise durch die Geschichte der Menschen mit Behinderung geführt von den Darwin‘schen Theorien  "Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtauswahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein" im Jahr 1859, über die "Rassenhygiene" und Beseitigung von „Ballastexistenzen"  der NS-Zeit bis zum Inkrafttreten  der UN- Behindertenrechtskonvention in Deutschland (UN-BRK) am 26. März 2009.

Danach sind Menschen mit Behinderung, Menschen, die langfristige (länger als sechs Monate) körperliche, seelische, geistige oder Sinnes-beeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

Dazu zählen Menschen, die schlecht sehen, gehen oder hören können und•Und Behinderungen, die man nicht sieht: Geistige oder psychische Beeinträchtigungen, Diabetes, Epilepsie, Asthma und COPD, Allergien, Herz- Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Krebs u.v.a.m.

Brandt: "Menschen mit Behinderung sind ein gleichberechtigter Teil unser Gesellschaft!"

In einem Impulsreferat beleuchtete Christoph Rimke vom Pädagogischen Dienst des BBW der Caritas-Don Bosco gGmbH Würzburg die vergangenen zehn Jahre seit dem Inkrafttreten  der UN- Behindertenrechtskonvention in Deutschland (UN-BRK) am 26. März 2009.

Eine inklusive Gesellschaft – ohne Barrieren, ohne Diskriminierung: das ist das Ziel der UN-BRK.

Mit dem Inkrafttreten ging also in Deutschland ein Perspektivwechsel einher: Menschen mit Behinderungen werden seitdem nicht mehr als Objekte der Fürsorge betrachtet, sondern als eigenständige Menschen mit eigenständigen Rechten.

Einen gesellschaftlichen Prozess in Gang brachte nach Rimke's Worten im Bund der  Nationale Aktionsplan(NAP) der von der Bundesregierung im September 2011 und 2016 aufgelegte Nationale Aktionsplan (in Bayern der Bayerische Aktionsplan im März 2013), in denen sowohl eine Gesamtstrategie zur Umsetzung der UN-BRK enthalten ist, wie auch 175 Maßnahmen aller Bundesministerien. Dazu zählen beschäftigungspolitische Maßnahmen, ein einheitliches Kennzeichnungssystem für barrierefreien Tourismus oder die Förderung des Behindertensports.

Weiter wurden der Behinderungsbegriff an die Konvention angepasst, das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) weiterentwickelt, eine Schlichtungsstelle beim Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen eingerichtet.

Vor allem mit der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) im Dezember 2016, das ab 01.01.2017 in Stufen in Kraft trat,  wurden mehr Möglichkeiten der Teilhabe und mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen geschaffen. Menschen mit Behinderungen, die Eingliederungshilfe beziehen, können mehr von ihrem Einkommen und Vermögen behalten.

Der deutsche Staat hat die UN-BRK vor zehn Jahren – zusammen mit über 160 anderen Staaten – unterzeichnet. Was wurde also inzwischen umgesetzt? Und wo fehlt es noch?

Eine Zwischenbilanz des BR-Fernsehens (Stand: 20.03.2019)

Arbeit

Im Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention geht es um den Zugang zu Arbeit. Da heißt es: „Menschen mit Behinderung haben das gleiche Recht auf Arbeit“ – in einem offenen, integrativen und zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld. Wird das umgesetzt?

Es gibt also durchaus den einen oder anderen Fortschritt. Aber hat sich insgesamt auf dem deutschen Arbeitsmarkt in Sachen Inklusion etwas getan? Kaum. Unternehmen sind eigentlich verpflichtet, 5 % ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen zu besetzen, doch: über 60 % der Unternehmen machen das nicht. Sie zahlen lieber eine Ausgleichsabgabe.

Ergänzung Rimke:

"Es gibt noch immer mehr als 40 000 beschäftigungspflichtige Unternehmen in Deutschland, die keinen einzigen Menschen mit Behinderung eingestellt haben", sagt Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Das sei nicht akzeptabel. Notfalls müsse man die Ausgleichsabgabe für solche Arbeitgeber deutlich erhöhen.

Und die Geschäftsführerin einer WfbM Imke Klocke stellt fest: "Der erste Arbeitsmarkt ist heutzutage derart leistungsorientiert, dass Menschen mit einer Einschränkung immer weniger bestehen können. Es ist ja, wenn man ehrlich ist, sogar so, dass unsere moderne Arbeitswelt viele Menschen überhaupt erst krank macht." (Quellen: DER SPIEGEL, Nr. 17 / 20.04.2019, S. 69,70)

 

Bildung

Der Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention enthält das Recht auf diskriminierungsfreie Bildung. Für den „UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung“ ist dabei klar: Die Staaten müssen „das Sonderschulsystem durch ein inklusives Bildungssystem ersetzen“.

Von allen Schülern des Jahrgangs 2016 waren 4,3 % an Förderschulen. 10 Jahre zuvor waren es noch 4,9%.  Die Anzahl der Schüler in Schulen mit Förderbedarf hat sich also kaum verändert,

Die Zahlen zeigen aber, dass sich die Schülerzahlen an den Förderschulen nur sehr geringfügig verringert haben – und das spricht nicht für die Umsetzung der inklusiven Bildung.

Gesellschaftliche Teilhabe

Verankert ist der Aspekt der gesellschaftlichen Teilhabe im Artikel 30 der UN-Behindertenrechtskonvention. Doch wie funktioniert sie? Zumindest im politischen Bereich sollte sie doch klappen, oder?

Noch funktioniert die politische Teilhabe in der Praxis nicht so, wie in der Theorie oder auf dem Papier.

Unterstützung bei der Umsetzung

Um die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland umzusetzen, ist in Berlin eine Monitoring-Stelle UN-BRK am Deutschen Institut für Menschenrechte geschaffen worden. Dr. Leander Palleit ist Jurist und einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter hier. Zufrieden ist er mit den Ergebnissen nach zehn Jahren noch nicht: Für ihn gibt es noch viel zu viel Exklusion – egal ob im Bereich der Bildung, in der Arbeit, im öffentlichen Leben und sogar im privaten Bereich. Überall gäbe es Barrieren und zu wenige verpflichtende Maßnahmen zugunsten der Inklusion. Doch nicht nur Deutschland tut sich da schwer, auch andere Länder haben ihre Defizite. Seine Einschätzung, wann Deutschland soweit sein wird, ist durchaus ernüchternd.

Auf jeden einzelnen kommt es an

Rimke: Auf jeden Einzelnen komme es an gemäß dem Motto: "#MissionInklusion - Die Zukunft beginnt mit dir“. Denn wie die  damalige Ministerin Ursula von der Leyen im  Vorwort zum NAP 2011 schreibt, könne umfassende Veränderungen niemand alleine schaffen. Dafür brauche man viele Menschen,  die sich für eine inklusive Gesell­schaft stark machen.

Inklusion statt Ausgrenzung und Abschottung müsse deshalb, so Rimke, als zentraler Bestandteil  unserer Identität zum Selbstverständnis werden.

Dies sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu der alle gesellschaftlichen Kräfte gefordert seien, so Mitglieder und Entscheidungsträger in Kirche, Wirtschaft: Arbeitgeber und Arbeitnehmer-Vertretungen, Kammern und Verbände, Bildung (Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Ministerien, Lehrer und Lehrerinnen), Verwaltung, Parteien, Organisationen (Feuerwehr, Chöre), Vereine (Kultur-, Musik-, Sport-, Heimat-, Kleingärten-) und Verbände.

Rimke: "Ein Anfang ist gemacht. Es geht in die richtige Richtung, um die nächsten Schritte. Es ist aber noch ein weiter Weg "

Und: "Inklusion ist das Leit-Motiv der UN-BRK - Zum Leitmotiv unserer pluralistischen Gesellschaft muss sie noch werden".

Und: "Hilfreich wäre zur Umsetzung ein Füllhorn an Ressourcen und Optionen, das auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruht."

Diskussion

Rimkes Impulsreferat diente als Grundlage für die rege Diskussion im Anschluss, bei der  Betroffene ihre Erfahrungen bei der Inklusion schilderten. Einerseits ging es dabei um Teilhabe und andererseits um die Barrierefreiheit.

Die Teilhabe Behinderter im Arbeitsmarkt, so eine Meinung, erfordere flexiblere Arbeitszeitmodelle und eine Restfinanzierung durch den Staat.

Zur Forderung der UN-BRK, das Sonderschulsystem durch ein inklusives Bildungssystem zu ersetzen, wurde auf den hohen Förderbedarf verwiesen und vorgeschlagen, den Soli für den Aufbau Ost umzuwidmen für soziale Gerechtigkeit.  

MdL Volkmar Halbleib sieht die Abschaffung der Förderschule als ganz gefährlich an. Christina Feiler meinte, die Inklusion in der Regelschule laufe oft nicht gut. Solche Schüler seien in der Förderschule besser aufgehoben. Auch Bürgermeister Jürgen Götz ist für ein Wahlrecht der Eltern, wo ihre Kinder am besten aufgehoben sind. Winfried Knötgen machte als Rektor der Grundschule Thüngersheim positive Erfahrung mit der Inklusion von Förderschülern an seiner Schule. Das Problem seien dann die Übertritte, wo es dann an der finanziellen Ausstattung fehle.

Sibylle Brandt plädierte für die Ausbildung von Inklusionsbegleitern als pädagogische Fachkräfte im Unterricht. Sie warte noch auf eine Antwort auf ihre Eingabe an die Staatsregierung. Ein weiterer Vorschlag ihrer Arbeitsgruppe betreffe die Integration von Umschülern in den Arbeitsmarkt durch sogenannte Integrationsfirmen.

Bemängelt wurde von Betroffenen die Barrierefreiheit des ÖPNV im Bereich der Stadt Würzburg, vor allem das Fehlverhalten von Busfahrern.

Eine Erkenntnis der Diskussion: Von der Barrierefreiheit profitieren alle, nicht nur die Behinderten.

Im Rathaus-Innenhof bestand die Möglichkeit bei einer „Olympiade der Sinne“ beispielsweise zu testen, wie man mit Schwarzbrille und Blindenstock sich im Raum bewegt, was im Rollstuhl eine drei Zentimeter hohe Barriere bedeutet und

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