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P.E.N.-Präsident Johano Strasser im Dialog mit Veitshöchheimer Gymnasiasten: „Meine Pubertät dauerte bis zum 30. Lebensjahr!“

Veröffentlicht am von Dieter Gürz

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"Ständig glücklich zu sein wäre eine Katastrophe!" und "Eines der größten Glücksmomente ist, wenn man hart arbeitet und etwas fertig zustande bringt!" waren zwei von vielen Ratschlägen und Feststellungen, die der renommierte Philosoph, Politologe, Schriftsteller und Publizist Johano Strasser den 160 Oberstufenschülern des Gymnasiums Veitshöchheim im Schulaula-Lehrsaal der LWG-Fach- und Technikerschule am Welttag des Buches mit auf ihren weiteren Lebensweg gab.

Mit Prof. Dr. Strasser, der acht Jahre lang Tür an Tür mit Günter Grass und Heinrich Böll in einer Wohngemeinschaft in Berlin lebte, konnte Jutta Merwald, Deutschlehrerin und Leiterin des Veitshöchheimer Lesenetzwerks, einen echten Promi für eine Lesereise durch Unterfranken gewinnen, deren erste Station nun Veitshöchheim war. Strasser füge sich mit seinem Adoleszenzroman trefflich in die diesjährigen Unterfränkischen Lesewochen, die dem Genderaspekt in der Leseförderung Rechnung tragen und vor allem die Jungs wieder mit ins Boot holen wollen, indem man Themen aufgreift, die ihrer Interessenlage entsprechen, so Merwald.

Und so begegnet uns in Strassers 2011 erschienenem Roman „Die schönste Zeit des Lebens“ der 18-jährige Robert, Abiturient und Zivildienstleistender in der Altenpflege, der seine liebe Not mit dem Erwachsenwerden hat.

Die Schülersprecher und Lesescouts Sophie Becker, Tanja Henkel und Lukas Krenz (auf dem Foto v.l.) brillierten als versiertes Moderatorenteam, das den Mitschülern nicht nur den prominenten Zeitzeugen der 68er-Bewegung präsentierte, sondern ihm auch mit Fragen über sein Leben und seine Denkweise auf den Zahn fühlte. Ihnen bescheinigte Strasser am Ende gar, dass sie ihm bessere Fragen als mancher bekannte Journalist gestellt hätten (siehe nachstehendes Interview). Mit Lese-Kostproben seines Romans "Die schönste Zeit des Lebens" führte er dem jugendlichen Publikum vor Augen, wie zermürbend die Phase des Heranwachsens sein kann.

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Es war schon ergreifend, wie der bald 73 Jahre alte Präsident der internationalen Schriftstellervereinigung P.E.N den Zoff und die Sprachlosigkeit in Roberts Elternhaus und seine trockenen Tränen der Verzweiflung trefflich formulierend zur Sprache brachte. In der Disco-Kneipe bei Reggae-Musik von Bob Marley fühlt sein Held sich geborgen wie in einer lärmend dröhnenden Insel der Zuflucht, wo er niemand Rechenschaft ablegen muss. Im nächsten Milieu gelingt es ihm im Umgang mit hilflosen und bösartigen alten Menschen mit Autorität und Routine, eine giftige Situation zu beruhigen. Und so soll „die schönste Zeit des Lebens“ aussehen? Der Publizist, der von 1980 bis zu ihrer Einstellung 1988 Redakteur und mit Heinrich Böll und Günter Grass  Herausgeber der politisch-literarischen Zeitschrift L 80 war, sprach sicherlich vielen aus dem Herzen, denen es ähnlich wie Robert ergeht, die von einem vorgezeichneten Weg für ihr Leben träumen, dass nach dem Abitur für sie etwas Neues, Ungewisses beginnt und sie wie Robert das Gefühl haben, einem Geheimnis auf der Spur zu sein.

 

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Begeisternder Applaus bestätigte dem ehemals programmatischen Vor- und Querdenker bei den Jungsozialisten, dass er mit seinen Worten die Jugendlichen erreicht hatte. Als kleines Dankeschön bekam er ein Bocksbeutelpräsent, den Jahresbericht der Schule und das in diesem Jahr erstmals erschienene Welttagsbuch für Lesefreunde.

 

Auszüge aus dem Interviev das  Sophie Becker, Tanja Henkel und Lukas Krenz mit dem Promi-Schriftsteller und Alt-68er führten:

Lukas: War für Sie die Zeit nach dem Abitur wirklich die schönste Zeit des Lebens?

Strasser: Das muss ich strikt verneinen. Man ist weit davon entfernt gewesen, antiautoritär erzogen zu werden. Etliche meiner Lehrer sind Nazis gewesen. Im Klassenzimmer hing eine Weltkarte, die Deutschlands Grenzen bis zum Ural zeigte. Da musste man sich frei schwimmen, sich nach dem Abitur neu orientieren und so bin ich lange Zeit ein Suchender gewesen.

Tanja: „Erwachsen sein, was heißt das eigentlich? ... Die Eltern sind erwachsen. Erwachsen sein heißt für jedermann erkennbar so zu sein wie man ist“, stellt Robert, der Romanheld, fest. Was heißt denn für Sie Erwachsensein, Herr Strasser?“

Strasser: Es ist ganz gut, wenn man nicht zu erwachsen ist, denn wenn sich nichts mehr weiter entwickelt, kann man auch gleich ins Grab sinken. Meine Pubertät dauerte bis ungefähr zum 30. Lebensjahr. Bis dahin habe ich die unterschiedlichsten Rollen ausgetestet. Ich bin als Weltbürger erzogen worden und war dementsprechend lange auf der Suche. Während meines Philosophiestudiums habe ich mich der 68er-Bewegung angeschlossen, inzwischen bin ich zivilisiert. Aber ich hatte zu kämpfen mit Bemerkungen wie ‚Junger Mann, Sie könnten auch mal zum Frisör gehen!“, mein politisches Engagement hat mich reifen lassen.

Sophie: Woher haben Sie überhaupt Ihr Wissen bezogen, welche Probleme bei heutigen Jugendliche anstehen?

Strasser: Ich habe selbst fast dreißigjährige Söhne, die am Starnberger See aufwuchsen als Kinder eines nicht allzu wohlhabenden Schriftstellers, wo viele Mitschüler kurz vor dem Abitur schon mit eigenem Sportwagen an der Schule vorfahren. Mit den Freunden, die meine Söhne nach Hause brachten, habe ich intensiv unterhalten und ihnen aufmerksam zugehört, was sie interessiert und wie sie die Welt sehen. Ich weiß, dass sich Kinder von den Eltern abgrenzen wollen. So habe ich mal meinen Sohn dabei erwischt, wie er eine Lektüre unter dem Bett verschwindenließ. „Porno, denkt der verdorbene Vater!“ In Wahrheit war es Kafka, also etablierte Literatur, mit der ich mich auseinandergesetzt habe, der Sohn sein Interesse daran aber nicht zugeben wollte.

Sophie: In Ihrem Roman heißt es, Robert habe‚ solange er zurückdenken kann, mit seiner Mutter kein Gespräch geführt. Und mit seinem Vater erst recht nicht. Das Gespräch ist immer schon zu Ende, wenn der Vater den ersten Satz gesagt hat. War das bei Ihnen zu Hause ein ebenso großes Problem wie bei Robert?“

Strasser: Nicht alles, was man schreibt, ist autobiographisch. Wir waren sechs Kinder zu Hause und bei uns wurde sehr viel geredet. Das Problem der Sprachlosigkeit, wie es Robert in seinem Elternhaus erfährt, ist sicher ein schichtenspezifisches Problem, das es in meiner Familie nicht gab. Und natürlich werden gerade die Mütter in einem gewissen Alter von ihren Söhnen als zudringlich erlebt, ähnlich wie es Robert ergeht.

Lukas: Ist ihr Roman überhaupt noch zeitgemäß, denn heutzutage wollten doch viele Jugendliche gar nicht wie Robert das „Hotel Mama“ so schnell verlassen?

Strasser: Ihr dürft nicht alles glauben was DER SPIEGEL schreibt von wegen ‚Hotel Mama’. DER SPIEGEL erfindet Lügen. Nach wie vor wollen jungen Menschen hinaus in die Welt. Sie wollen im echten Wortsinn ‚Welt er-fahren’, das ist die Grundkonstellation in den meisten Menschen. Mein Robert im Buch hat viele Sehnsüchte im Kopf. Er identifiziert sich mit der Leichtigkeit des romantischen Taugenichts, der von Ort zu Ort zieht und seine Erfahrungen macht. So geht es auch noch vielen jungen Leuten heute.

 

Strasser: "Mich ärgert, dass mein Freund Günter Grass als Antisemit bezeichnet wird"

Deutschlehrerin Jutta Merwald: Welche Meinung haben Sie zu den hitzigen Diskussionen um das Gedicht von Günter Grass?

Strasser: Grass spielt in diesem Gedicht, das eigentlich keines ist, zumindest kein besonders gutes, mit Präventivschlägen, obwohl ihm klar ist, dass Israel keinen atomaren Erstschlag erwäge und es nicht das iranische Volk auslöschen wolle.

Als enger Freund von Günter Grass ärgert es mich, dass man ihn, der immer für das Existenzrecht des Staates Israel eingetreten ist, als Antisemit bezeichnet.

Dann sind die Hälfte der israelischen Staatsbürger, die auch gegen die Regierung Israels sind, Antisemiten“. Ich bin selbst  fünfmal in Israel gewesen; es ist die Regierung, die den eigenen Staat zugrunde richtet. Wenn 50 Prozent der israelischen Kinder psychisch gestört sind, dann liegt das doch an der Politik von Netanjahu. Dass Grass als 17-Jähriger bei der Waffen-SS gewesen ist, kreidet man ihm immer noch an. Im Grunde ist die Hetze gegen Grass „eine Kampagne von Leuten, die ohnehin schon immer gegen Grass waren“. Dabei hat gerade Grass in der 68er-Zeit seine Freunde immer gewarnt: „Ich bin der Nazi-Ideologie aufgesessen, seid Ihr nicht so blöd, dass Ihr einer sozialistischen Ideologie aufsitzt.“

 

 

 

 

 

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